Ja, seid ihr denn wahnsinnig 

Berlin ist die Hauptstadt der schrägen Vögel. Gefährlich sind die wenigsten, und deswegen ist es gut, wenn man nicht immer gleich nach der Klapse ruft, nur, weil mal wieder einer mit sich selbst spricht

Von Sara Geisler

Kurz nach Neujahr, Sonnenallee, Neukölln. Ein Mann in Cowboystiefeln und Fransenweste huscht von Bürgersteig zu Bürgersteig und zündet einen entsorgten Weihnachtsbaum nach dem anderen an.

Ende Januar, ein Morgen am Schlesischen Tor, Kreuzberg. Die Deckenfrau – um die 50, kurz geschorene Haare, wohnhaft auf einer Bank unter der Hochbahn – hat sich ein neues Outfit gebastelt: mehrere in Streifen geschnittene Fleecedecken, gelb, grün, orange, rot, sorgfältig um den Körper gewickelt. Um dem Winter zu trotzen, hat sie sich weitere Stoffstücke als Wattierung zwischen die Streifen gestopft.

Kurz nach der Abenddämmerung, Mitte Februar, die Straßenbahn-Haltestelle „Am Friedrichshain“ im Prenzlauer Berg. Ein Mann in tintenblauer Daunenweste, die Gesichtszüge fein, der dichte Bart grau meliert, singt voller Inbrunst Tracy Chapman. Plötzlich hält er inne und herrscht eine Reklametafel an („The Wyld. Nicht von dieser Welt“ im Friedrichstadt-Palast): „Was könnt ihr denn sonst?! Sie haben den Jungen zerstört!“ In der M4 schüttet er sich Kaffee über die Hose, schreit „Wo ist der Notschalter?“ und springt an der Ecke Mollstraße/Otto-Braun-Straße erbost aus der Bahn.

Berlin ist die Hauptstadt der Stimmen-Hörer, der Mit-sich-selbst-Redner, der Andere-grundlos-Anschreier. Die Schizos und Psychos, so merkt der aufmerksame Passant bald, gehören genauso zum Inventar der Stadt wie der Easyjet-Tourist, die Prenzlauer-Berg-Mutti und der arglistige BVG-Busfahrer. Einmal von Ost nach West gefahren – zur Not reichen auch ein paar Minuten U8 oder U7 –, und man hat eine ganz gute Übersicht darüber, was es an psychischen Störungen so gibt: Schizophrenie, Borderline, Paranoia, Manie – you name it. Jene, die mit dem gemeinen Obdachlosen schon nicht klarkommen, die, die nicht wissen, ob rechts schauen oder links, wenn jemand kichernd auf sie zuläuft, empfinden Berlins Verrückte als Zumutung – die anderen als Kuriosum. Nicht selten beginnt eine Geschichte mit einem atemlosen „Alterduglaubstnichtwasichheutgesehenhabe!“. Und nicht selten fragt man sich angesichts der schieren Menge an Anekdoten, warum sich eigentlich niemand um die psychisch Kranken zu kümmern scheint. Ist es wie mit dem Flughafen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Und kommt es einem nur so vor, oder sind es in den letzten Jahren wirklich immer mehr geworden, die murmelnd oder deklamierend durch Berlins Straßen geistern?

Mittagszeit, Ende Januar, vor dem Hostel A&O am Hauptbahnhof. Ein Mann in brauner Lederjacke schiebt die Luft um sich umher. Eurythmie? Oder eine Art experimentelles Tai-Chi? Falsch, Karate, sagt er und fragt, ob man seine Plastiktüte gefunden habe. Nein? Aha, dann waren sie also wieder da, die russischen Spione! Auch der Polizeipräsident hat schon versucht, ihn umzubringen. Den hat er natürlich gleich angezeigt.

Zwar kann eine psychische Krankheit genetisch veranlagt sein, im Grunde ist es aber wie mit dem Krebs: Es kann jeden treffen. Eine Psychose kann sich still und langsam, aber unvermeidbar wie das Komma in diesem Satz anbahnen, oder aber sie ist ganz plötzlich da. Einen Burn-out zu lange brennen lassen, das Auto und die Mutter um einen Baum wickeln oder eine bunte Pille zu viel schlucken – Auslöser für psychische Krankheiten gibt es en masse. Und manchmal – das ist keine wissenschaftliche Erkenntnis, aber einige Erfahrungswerte deuten darauf hin –, manchmal ist eine Stadt wie Berlin schon Trigger genug.
Den Vergleich, dass Berlin allmählich zum L.A. wird, wo Tausende psychisch Kranke das Stadtbild prägen, gab es vor 30 Jahren noch nicht. Nicht, weil es damals keine Verrückten gegeben hätte, sondern einfach, weil man die Situation anders handhabte: Stichwort Klapse. In Berlin gab es vor allem eine, von der es sich zu schreiben lohnt und deren Geschichte eng verbunden ist mit jener der Psychiatrie in Deutschland: Bonnies Ranch. 1880 wurde die riesige Klinik (mit Haus und Hof 45 Hektar) im Bezirk Reinickendorf gebaut und, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den Namen „Irren- und Idiotenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf“ getauft. Wem sich bei dem Titel unweigerlich Bilder aus „Einer flog über das Kuckucksnest“ aufdrängen, der liegt nicht so falsch. Es kommt ganz gut hin. Später nannte man die Klinik in Wittenauer Heilstätten um, in Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik und bis zu ihrer Schließung 2006 in Vivantes Humboldt-Klinikum. Genauso häufig wie der Name veränderte sich auch der Wind, der durch die backsteinerne Anstalt wehte: mal liberal, dann wieder mehr Zwangsweste, von 1933 bis 1945 bestialisch. Dass die Klinik so abgeschieden lag, hing nicht nur mit dem billigen Baugrund zusammen, sondern auch damit, dass man die „Irren“ (heute: psychisch Kranken) und „Siechen“ (heute: Menschen mit geistiger Behinderung) im Stadtbild nicht duldete. Vom Alexanderplatz bis nach Dalldorf brauchte man per Pferdebahn eine geschlagene Stunde. Die schwierigen Patienten, zeitweise waren es 4.000, blieben also unsichtbar – was den meisten Bürgern Berlins ganz recht war. 

S-Bahn-Station „Treptower Park“, Anfang Februar, später Nachmittag. Eine dicke Frau, gelber Anorak, ihr dünnes Haar zum Zopf geflochten, versucht, im Stehen gegen einen Baum zu pinkeln. Als sie die Ringbahn einfahren hört, reißt sie den Kopf herum und brüllt: „Jetzt lasst mich doch in Ruhe! Ich repariere!“

In den Siebzigern begannen sich die Dinge schließlich zu ändern: Der Deutsche Bundestag trommelte eine Expertenkommission zusammen, die sich anschauen sollte, wie es in den Psychiatrien so zuging. Das Ergebnis? Eine Katastrophe. Hygiene: unzumutbar. Personal: minimal. Privatsphäre: not existing. Chancen auf Wiedereingliederung? Äh, nein. Eine Reform musste also her, die sogenannte Psychiatrie-Enquete, die vieles verbessern würde. Seit 1975 gilt nun der Grundsatz: ambulant vor stationär. Berlin ließ sich für diese Veränderung, man glaubt es kaum, ein wenig Zeit: Erst in den Neunzigern begann man, die großen Anstalten zu schließen und 2.800 Betten abzubauen. Weil die Menschen, die vorher in ihnen lagen, natürlich nicht auf einen Schlag gesundeten, spannte die Stadt gleichzeitig ein Netz von Einrichtungen auf. Wenn irgendwie möglich, wurden psychisch Kranke nun zu Hause versorgt, in Einrichtungen des betreuten Wohnens, durch sozialpsychiatrische Dienste, in Tagesstätten und durch den Berliner Krisendienst, der rund um die Uhr erreichbar ist. „Gemeindenah“ nennt man das. Das genaue System der Eingliederungshilfe und ihrer Finanzierung ist zu komplex, als dass man es an dieser Stelle beschreiben könnte, geschweige denn lesen wollte; aber die meisten Beteiligten finden, dass es ganz gut gelungen ist. Seit der Reform ist nun jeder Bezirk für seine psychisch Kranken selbst verantwortlich und sorgt dafür, dass sie nach akuten Klinikaufenthalten nicht ohne Hilfe dastehen – oder gar auf der Straße. Dieses dezentrale System hat viele Vorteile, es macht es aber durchaus schwierig, die Gesamtsituation der Stadt im Blick zu behalten.

Diverse Kneipen in Prenzlauer Berg und Mitte, 90er- und Nullerjahre. Die legendenumwobene Nachtigall von Ramersdorf, ein ehemaliger Schauspieler mit hellroter Pudelmütze, singt so penetrant, dass Gäste verängstigt ihre Portemonnaies herauskramen. Wer sich nicht anschickt, genügend Münzen zu spenden, wird zur Sau gemacht. 

Wie viele psychisch Kranke es nun in Berlin gibt, das traut sich niemand zu sagen. Grundsätzlich geht man aber davon aus, dass ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung eine schwere psychische Erkrankung haben. Schwer bedeutet in diesem Fall: Die Krankheit dauert mindestens zwei Jahre und wirkt sich spür- und messbar auf das Leben aus. Auch wenn genaue Zahlen fehlen: Laut Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ist die Erkrankungsrate in der Hauptstadt überdurchschnittlich hoch und stieg in den letzten Jahren kontinuierlich – genauso wie die Zahl der Krankschreibungen und jene der Betten in den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser. Dort werden Menschen behandelt, wenn sie etwa absichtlich eine Handvoll Scherben geschluckt haben oder sonst irgendwie akut Hilfe brauchen. Die Aufenthaltsdauer in diesen Abteilungen ist mit durchschnittlich 20 Tagen sehr kurz – und wird seit der Reform immer kürzer. Weil drei Wochen aber meist nicht reichen, um etwa eine ausgewachsene Psychose in den Griff zu bekommen, gibt es viele Drehtür-Patienten. Heißt: Kaum sind sie aus dem Krankenhaus raus, sind sie schon wieder drin. Um das zu vermeiden, tun sich Patient, Klinik und die sozialpsychiatrischen Dienste eines Bezirks in den sogenannten „Fallkonferenzen“ zweiwöchentlich zusammen (in Neukölln wöchentlich) und besprechen, wie es nun weitergehen soll. Theoretisch ein gutes System, praktisch aber passieren viele Fehler. 
„Die Kliniken sagen, sie hätten Zeitnot, aber oft sind sie einfach schlampig“, sagt Matthias Rosemann. Er ist Geschäftsführer der Träger gGmbH, die sich in Reinickendorf und Mitte in unterschiedlichen Wohn- und Betreuungsformen um 240 psychisch Kranke kümmert. Wie viele andere findet auch Rosemann, dass es eigentlich genügend Hilfe für psychisch Kranke gibt. Warum also die vielen Verrückten auf der Straße? Einen Engpass gebe es, räumt Rosemann ein, der damit zusammenhängen könnte: Der Wohnraum für psychisch Kranke sei knapp. „Wer nicht in seiner eigenen Wohnung betreut werden kann, weil er zum Beispiel keine hat oder der Vermieter nicht mehr mitspielt, für den kann es tatsächlich schwierig werden.“ Wir kommen der Sache näher.

Eine Samstagnacht (fast schon Sonntag) Mitte Februar, vor einem Späti im Schillerkiez, Neukölln. 
Ein großer Mann fragt wortgewandt nach einer Zigarette. Die Kippe in der einen Hand, eine Plastiktüte voller Pfandflaschen in der anderen, erzählt er davon, wie er auf Drogen hängen geblieben ist, und warnt vor einer Frau, „die nur eine Psychopathin sein kann“. Ausgegeben hat sie sich als Vietnamesin und ihn dann durch die ganze Republik verfolgt (bis nach Tschechien). Schließlich fand er heraus, dass sie Araberin war. Nach dem letzten gierigen Zug betritt er den Kiosk und sagt zum Verkäufer: „Hier, ich hab eine Tüte mit Flaschen gefunden.“

Zur Zahl der Berliner Obdachlosen gibt es nur Schätzungen: Der Senat geht von 2.000 bis 4.000 Menschen aus, Hilfsverbände von über doppelt so vielen: 11.000. Tendenz steigend. Dass Obdachlosigkeit und psychische Krankheit oft Hand in Hand gehen, ahnt nicht nur der Berliner Passant: Glaubt man einer Studie der Technischen Universität München, dann sind mehr als zwei Drittel der Obdachlosen in Deutschland psychisch krank. Sie leiden vor allem an Psychosen, haben Angststörungen, sind depressiv, trinken zu viel. 
Dass die Situation bei den Berliner Obdachlosen nicht anders ist als bei den Münchnern, weiß Jochen Schroer. Er ist Sozialpädagoge bei der Träger gGmbh und leitet unter anderem ein Übergangsheim in Reinickendorf. Ja, mit den Nachbarn gäbe es natürlich oft Stress, wegen Lärm oder weil mal wer die Tochter blöd anspricht. Aber eigentlich läuft es ganz gut. Früher hat Schroer in Kreuzberg mit Obdachlosen gearbeitet und weiß seit einer regionalen Erhebung: In den Einrichtungen der sozialen Wohnhilfe leben etwa genauso viele psychisch Kranke wie in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe. In letzteren werden etwa 9.000 psychisch kranke Menschen betreut. Macht also 9.000 psychisch kranke Obdachlose. 

Helmholtzplatz, Prenzlauer Berg: Ein Mann in blauem Anzug schreit so laut, dass sich Passanten nach ihm umdrehen. Aus unzähligen Tüchern hat er sich einen bunten Turban gewickelt, mit dem er über den Platz stolziert. Er selbst nennt sich „Fellow Creature“ und gibt an, der Vater von Sharon Stone zu sein.

Für die vielen kranken Obdachlosen geben die Autoren der Münchner Studie unter anderem der Psychiatriereform die Schuld. Die „Enthospitalisierung“ hätte die Behandlung psychisch Kranker quasi direkt auf die Straße verlegt. Ganz so drastisch will das in Berlin niemand behaupten, aber der Fakt, dass die wenigen stationären Heime, die es noch gibt, aus allen Nähten platzen, spricht für sich.
„Eigentlich dürfte es uns nicht geben“, sagt Axel Horn. Der 50-Jährige leitet das Pflegeheim Agaplesion Bethanien Radeland. Am Rande von Spandau steht die ehemalige Frauenpsychiatrie, in der jetzt 171 psychisch Kranke, geistig Behinderte und Demente wohnen. Es schneit an diesem Vormittag, es riecht nach Erde, und außer ein paar vor sich hin redenden Bewohnern ist es sehr ruhig auf dem Gelände, fast, als wäre man gar nicht mehr in Berlin. 
„Die Menschen, die hierherkommen, sind die wirklich ‚schwierigen Fälle‘, die ‚Austherapierten‘, die ‚Systemsprenger‘“, sagt Daria Kaluza, eine der Psychologinnen der Anstalt. Hier geht es nicht mehr darum, Stimmen loszuwerden, sondern maximal darum, beizeiten zurückzuschnauzen. Durchschnittlich acht bis zehn Jahre bleiben die psychisch Kranken hier. Für die meisten gibt es kein Zurück mehr in ein selbstständiges Leben: In den letzten fünf Jahren verließen genau fünf Patienten das Heim. 
Mit „Einer flog über das Kuckucksnest“ oder Bonnies Ranch hat Radeland aber rein gar nichts gemein: Im Garten wird mit Alpakas therapiert, in der Küche gemeinsam Marmelade eingekocht, zusammen Flamenco getanzt und mit dem Heimleiter bei Erdbeerkuchen und Filterkaffee besprochen, was es so an Beschwerden gibt. Markus, die Haare raspelkurz und ein Schlangentattoo am Unterarm, macht sich um die seelische Gesundheit der Mitarbeiter Sorgen. Auch findet er, die Cafeteria solle wieder raucherfreundlich werden. Marianne, die früher im betreuten Wohnen alles zusammengeschlagen hat und jetzt in der Flamencotherapie die Psychologin anstrahlt, als gebe es keinen besseren Ort auf der Welt, will endlich mal selbst gemachten Kartoffelsalat essen. Man darf das nicht falsch verstehen: Eine psychische Krankheit ist sicher kein Spaß – aber wäre man gesund und hier auf Landschulwoche, man könnte sich nicht beklagen. 
Außer Radeland gibt es in Berlin noch fünf weitere solcher Heime. „Zu wenig“, sagt Ludwig Wast auf dem Parkplatz des Heims. Der ältere Herr mit dem dicken Schnauzer hat selbst eine psychisch kranke Tochter und 1989 den „Landesverband Berlin der Angehörigen psychisch Kranker“ mitgegründet. Er glaubt, dass es zu viele Menschen gibt, für die eine halbe Stunde Betreuung zweimal die Woche einfach nicht ausreicht. „Die Leute werden älter, und dann brauchen sie einfach mehr Pflege – das hat man bei der Psychiatriereform nicht bedacht.“ 

Cuvrystraße, Kreuzberg: Ein kleiner, älterer Mann schiebt eine Bauschubkarre vor sich her. Sein staubiger Schäferhund begleitet ihn mühselig, das Hinterteil fällt etwas ab, wahrscheinlich ein Rückenschaden. An einer Mülltonne bleibt der alte Mann stehen und kratzt mit einem Spachtel so lange über die Metalloberfläche, bis alle Aufkleber ab sind. Dann geht er zur nächsten Laterne und schabt dort weiter.

Die UN-Behindertenkonvention legt fest, dass man psychisch Kranke ins gesellschaftliche Leben integrieren soll. Sprich: Man soll sich um sie kümmern. Gleichzeitig gilt aber auch das Selbstbestimmungsrecht: Niemand darf dazu gezwungen werden, sich betreuen zu lassen, behandelt zu werden oder Medikamente zu schlucken – selbst wenn er ganz offensichtlich im Begriff ist zu verwahrlosen. „Dass in Berlin so viele psychisch Kranke durch die Straßen ziehen“, sagt Rosemann von der Träger gGmbH, „kann man auch als Chance sehen. Es ist eine Stadt, in der es erlaubt ist, verrückt zu sein – ohne Konfirmationsdruck und ohne Zwang.“ Jemanden so leben zu lassen, wie er es will, falle einem bei so manchem Anblick zwar schwer. Es sei aber ein hohes Gut.

Reinickendorf, 11.00 Uhr morgens, vor dem Begegnungszentrum, einem Café der Träger gGmbh.
Viktor ist aus Russland, vor allem aber ist er Karate-, Ringkampf-, Jiu-Jitsu- und Nanbudo-Weltmeister. Er hat schon überall gekämpft, in Kanada, Japan, den USA. „Ich gehe davon aus, dass ich der beste Kämpfer der Welt bin“, sagt er ernst. An den Namen des Berliner Vereins, der ihn unter Vertrag hat, kann er sich gerade nicht erinnern. Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig. Viktor hat alle Bücher von Bruce Lee gelesen, deshalb sind seine Kämpfe auch nur ganz kurz – er braucht immer nur einen Kick, und der Gegner geht k.o. 
Dass Viktor trainiert, sieht man ihm an. Dass eines Tages sein Bruder tot im Bett lag, er nun morgens nicht aus dem Bett kommt und deshalb keine Arbeit behält, dagegen nicht. Er ist frisch rasiert, hat seine Einkäufe schon erledigt und kommt eben nur kurz vorbei, um zu sehen, wer so alles da ist. Jetzt steht er neben seinem Bekannten Michael und raucht. Der sitzt auf der Bank, wohl wegen seiner Rückenschmerzen, und zündet eine neue Zigarette an der alten an. Bei ihm war es das Kiffen, sagt Michael. Irgendwann war es zu viel, er hat sich ausgezogen und ist in einen großen Teich gesprungen. Der Tod des Vaters, der die Mutter geschlagen und ihm mehr böse Worte als gute mit auf den Weg gab, könnte auch damit zusammenhängen. Jedenfalls war es nicht immer ganz leicht. Viktor sieht ihn ein paar Sekunden schweigend an, dann noch ein paar und sagt schließlich ganz ruhig: „Das wird schon wieder.“

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