Paff paff paff

Mal eintauchen in eine Welt, in der noch das Recht des Stärkeren gilt. Eine Expedition zum großen Indianertreffen in Brandenburg

Von Fabian Dietrich

Es beginnt mit einem Buch, das ich mal gelesen und eigentlich auch gemocht habe. Es heißt „Sozialistische Cowboys“ und handelt davon, wie die Menschen in der DDR ihre Liebe zum Wilden Westen und den Indianern entdeckten. In dem Buch wird von mehreren bedeutenden Stämmen von Ost-Indianern und ihrem abenteuerlichen Leben im Roten Reservat berichtet. Das Tollste ist aber, dass die Sehnsucht nach Indianern darin nicht nur als irgendein alberner Blödsinn beschrieben wird, sondern als Vehikel, das einen tief in die Seele der Menschen blicken lässt. 
Und deswegen stehen wir eines Tages vor einem großen hölzernen Tor, knapp zwei Stunden von Berlin entfernt, irgendwo an einem See in der Uckermark, und betreten die Westernstadt El Dorado. Eine staubige Straße, wie gemacht für Pistolenduelle. Links und rechts aus groben Planken gezimmerte Gebäude, die aus irgendwelchen Filmen abgeschaut sind. Der Saloon, die Bank, die Apotheke, eine mexikanische Kirche, schon alles ganz gut gemacht, und irgendwo weit in der Ferne auch die Spitze eines Marterpfahls. Am Telefon hatte man uns gesagt, in El Dorado hätten sie beim großen Indianertreffen eigentlich alles da: einen hauseigenen Blackfoot, einen österreichischen Indianer, Hopis, Mohikaner und Crows aus den USA und Kanada. Das Beste: Die Indianer würden jedes Jahr mehr. 
Schmerbäuchige Männer mit Peitschen kommen uns entgegen und starren grimmig vor sich hin. Banditen bringen ihre Gewehre in Stellung, ältere Ladys mit Häubchen auf den Köpfen trippeln vorbei. Eine Horde scheinbar komatöser Pistoleros lungert auf der Mainstreet herum. Es riecht nach Schießpulver und Pferdemist. 

Die größte Gefahr geht momentan aber eindeutig von einem Zivilisten namens Bohrmann aus, der in der Bierschlange vor uns steht. Ein schwer angetrunkener Typ mit Kapitänsmütze auf dem Kopf und gelbbraunen Zähnen. Er bewegt sich wie ein angeschossener Bär. Als Bohrmann erfährt, dass wir uns für dieses Magazin auf die Suche nach den letzten ostdeutschen Indianern gemacht haben, dreht er sich um und ruft: „Ihr beiden arbeitet hier? Was seid ihr denn für Arschlöcher?“ Halb drohend, halb im Spaß zeigt er uns die Narben an seinen Handknöcheln und erklärt, wen er mit seinen Fäusten wann und wo in Berlin vermöbelt hat. „Ich bin ein Autonomer, aber Neukölln ist doch ein Türkennest.“ Am meisten, sagt er, hasse er Hippies. „Typen mit langen Haaren, die die ganze Zeit vom Frieden quatschen, kann ich nicht ab.“ Und dann erwähnt er noch, dass er eben fast einem Mann auf dem Spielplatz eine reingehauen hat, weil der meinte, Bohrmann sei besoffen und solle seine Kinder in Ruhe lassen. 

Um die Indianer besser kennenzulernen, wollen wir uns als ihresgleichen tarnen, aber der Kostümfundus der Westernstadt ist eine einzige Enttäuschung, es gibt nur Cowboy-Klamotten. Missmutig werfen wir unsere Staubmäntel über, ziehen uns die peinlichen Hüte ins Gesicht und schlurfen in Richtung der großen Freiluftbühne davon. Dort sind vor drei Tipis, aufgespannten Fellen und angenagelten Tierschädeln dann endlich auch die ersten Indianer zu sehen. „Die müssen sich nicht verkleiden“, erklärt eine Mutter ihrem Kind und schiebt sich noch eine Spreewaldgurke rein. „Die sind echt.“ Ein in grellbunte Fransen-Outfits gehülltes Grüppchen hat sich um eine Trommel versammelt. „Amerika! Ein großer Kontinent, der sich viele Flugstunden von Europa entfernt befindet!“, verkündet die dröhnende Stimme des Moderators. „Jedes Jahr kommen amerikanische Ureinwohner aus aller Welt nach Templin, um gemeinsam zu tanzen, zu singen, zu feiern! Tanzt euren Stil, Leute!“ Und die Indianer tanzen und singen und trommeln tatsächlich. Sie machen „Heyahey-Uaaahey“, und die Gäste der Westernstadt klatschen dazu im Takt. 

Etwas ratlos streunen wir biertrinkend auf dem Gelände umher. Bis auf eine schüchterne Frau in einem wirklich eleganten Lakota-Kleid haben wir bislang noch keinen einzigen deutschen Indianer entdeckt. Dafür wimmelt es von abgerissenen Cowboys und Soldaten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Ein Typ mit einer merkwürdigen roten Bommelmütze erklärt uns, er sei ein Söldner und kämpfe für die Südstaaten. Er schwärmt davon, wie gefährlich und absolut tödlich seine Einheit sei. „Wir waren immer dort, wo es richtig zur Sache ging“, sagt er. „Sind die Südstaatler nicht üble Rassisten gewesen?“, frage ich naiv. „Aber das ist doch einfach nicht wahr!“, protestiert der Söldner. Und dann erzählt er uns von den Schandtaten der Nordstaatler, über die leider immer geschwiegen werde. 

Am Nachmittag treffen wir einen der Tänzer vor dem Saloon. Er heißt Kevin Dust, gehört dem Volk der Crow an, wohnt aber schon seit über zehn Jahren in Paris, wo er im Showprogramm des Euro-Disneyland auftritt. „Wir Indianer leben im 21. Jahrhundert, aber die meisten Menschen haben das noch nicht kapiert“, sagt er. Es gehe darum, die Klischees zu bekämpfen. Er findet es toll in Europa, weil die Konkurrenz nicht so groß sei und er ab und zu in Filmen mitspielen könne. In Buffalo Bills französischer Wildwest-Show fühle er sich ebenfalls sehr wohl. „Ich mag die Frauen, ich mag den Wein. Ich habe eine lebenslange Anstellung bei Disney. Was will ich mehr?“ Routiniert spult er seinen Vortrag über die glücklichen Jagdgründe und die Sünden des weißen Mannes ab, der die Natur zerstört. Kevin Dust findet es offenbar auch überhaupt nicht beunruhigend, dass die meisten Brandenburger zum Indianertreffen in den Kostümen der einstigen Unterdrücker aufgetaucht sind. In verrätselten Worten deutet er an, die Prophezeiung des Weißen Büffels habe das bereits vorhergesagt. 
Als wir gerade gehen wollen, verrät er uns noch, er werde bald ein reicher Indianer sein. „Warum?“, fragen wir. „Sie haben Gas und Öl in unserem Reservat in Montana gefunden. Wenn sie endlich damit anfangen, das Zeug zu fördern, bekomme ich meinen Teil der Konzessionen ab.“ 

Am Abend, als die Familien mit ihren Kindern die Westernstadt verlassen und die niedergeschossenen Bankräuber sich wieder aus dem Staub der Mainstreet erhoben haben, gehen wir nach draußen auf den Parkplatz, wo die Profis vor ihren Zelten und Wohnwagen sitzen und sich mit Schnaps und Bier fürs Nachtprogramm stärken. Trapper Pit und seine Frau Black Feather waren in der DDR nicht dabei. Sie erinnern sich zwar noch an Gojko Mitić, den ostdeutschen Pierre Brice, haben aber noch nie von dem Buch „Sozialistische Cowboys“ gehört. Sie sind erst seit ein paar Jahren infiziert und haben sich ihre Kostüme beide aus dem gleichen weißlichen Hirschleder genäht. Die Waffe von Trapper Pit ist wie die Waffen der meisten Männer hier tatsächlich echt, Spielzeugpistolen sind verpönt. 
Manchen seiner alten Freunde könne er leider nur schwer vermitteln, warum er alle drei Wochen verkleidet in Templin herumstromere und nicht einmal Geld dafür bekomme, sagt Trapper Pit. Die dächten, er wolle wieder ein Kind sein. „Aber ick steh dazu. Eine vergangene Epoche nachzuerleben ist einfach wunderbar.“ Obwohl uns Trapper Pit und seine Kollegen am Wohnwagen gewarnt haben („Versprecht euch nicht zu viel von den Indianern an der Beaver Lodge, die erzählen da nur ihre Geschichten, wie sie ins Reservat gekommen sind und so“), gehen wir noch einmal zurück in die Stadt und schauen uns am Lagerfeuer um.  
„Unsere indianischen Freunde“, wie sie hier genannt werden, stehen in Alltagskleidung am Mikrofon und proben ein paar Lieder. Sie singen: 
German Girl 
Thinking of you 
All of the time 
Take me 
Driving me crahazy 
„Hey, hey, ich bin der goldene Reiter“, stimmt ein Jugendlicher ein. 
Ein betrunkenes, vornehmlich aus Banditen und Anwohnern bestehendes Grüppchen sitzt im Kreis um das Feuer. Hin und wieder wirft jemand einen Plastikbecher in die Flammen, der zu einem schwarz verschrumpelten Nichts verschmort. Kevin Dust beendet seinen Auftritt mit den Worten: „This place is spiritual, and I love it!“ Der deutsche Übersetzer und Moderator sagt so etwas wie: „Wenn die Indianer diesen Trommelschlag hören, dann erinnert sie das an das schlagende Herz ihrer Mutter, und sie fühlen sich geborgen und daheim.“ Dann beginnt ein Indianer, der aus dem Norden Kanadas stammt, aber mittlerweile in Österreich lebt, eine komplizierte und langatmige indianische Weisheit vorzutragen, in der es um Fische und Wale und Adler und einen Prinzen geht. „Ick hab alles gefahren, was es so gibt. 3,5-Tonner, 7,5-Tonner, 40-Tonner“, erklärt ein Lkw-Fahrer, der sich Doc nennt. Eine Frau mit hochtoupierten Haaren setzt sich dazu und fängt an, die brutal traurige Geschichte ihrer behinderten Tochter zu erzählen, die ein ganzes Jahr lang im Krankenhaus im Sterben lag. 
Es ist kalt, wir sind allmählich unangenehm betrunken und stellen fest, dass außer uns niemand in einem Tipi übernachten wird. „Ihr seid die wahren Indianer“, sagt die Mohikanerin Naomi Martin zu uns. 
Als ich am nächsten Morgen im Tipi erwache, fühle ich mich jämmerlich. Wir schleppen uns zum Frühstück in den Saloon und treffen Kendall Alter Wapiti-Hirsch, der sagt, wir sollten doch später zu seinem Souvenirstand kommen, da könne er gerne noch ein paar Klischees widerlegen. Die nächsten beiden Indianershows, den Grastanz, den Reifentanz und den gemeinsamen Rundtanz („Wenn ihr nach Hause kommt, könnt ihr sagen: Ich habe im El Dorado Templin mit einem echten Indianer getanzt!“) erlebe ich wie in Trance. Wir besuchen im Fort die Sonderausstellung „Wilder Westen und Indianer aus Zinn – Aus der Sammlung von Wolfgang Lohnse und Dietmar Winkler“, schauen Kindern und ihren Müttern beim Goldwaschen zu, lassen uns in Fachsimpeleien über die Länge von Colts im Jahr 1873 oder den feinen Unterschied zwischen Tramps und Hobos verwickeln, treffen einen jungen Bayern, der uns verrät, wenn seine Eltern ihn damals, als er neun Jahre alt war, nicht in die Westernstadt, sondern zum Mittelalterfestival mitgenommen hätten, säße er jetzt wahrscheinlich nicht in der Tanztracht der Blackfoot, sondern in einer Ritterrüstung hier. 

Als die Sonne allmählich hinter den Wipfeln der Kiefern versinkt und wir gerade auf dem Weg zu unserem Tipi sind, um unsere Flucht vorzubereiten, laufen wir Silvio über den Weg. Er ist einfach so gekommen, wie er immer herumläuft, hat sich also nicht großartig kostümiert, und sieht trotzdem von den ganzen Deutschen hier noch am ehesten wie ein echter Indianer aus. Gebräunte Haut, Mohawk-Baseballmütze, dezenter Schmuck auf der Weste. Er besucht regelmäßig deutsche Powows, hat mehr als 200 Fachbücher im Regal und ist, so scheint es, der Einzige, dem man ein bisschen auf den Grund seiner Seele schauen kann, weil er nicht komplett zu einer Kulisse geworden ist. „Wir sind von Karl May verseucht“, fasst er die Lage zusammen. Dann zitiert er aus dem berühmten Aufsatz von Friedrich Engels über die Irokesen und erzählt, wie er sich als junger Mann in der DDR die Haare lang wachsen ließ. „Ich bin Sympathisant der indianischen Sache.“ Die Situation der heutigen Indianer könne man durchaus auch auf Deutschland übertragen. Er kenne genügend Arbeitslose, die bei Edeka und Norma in Königs Wusterhausen herumhingen und sich die Birne mit Dosenbier zuknallten. Das sei doch wie im Reservat. Und er selbst habe mittlerweile auch die große Indianerkrankheit bekommen: Diabetes. Viele der Hoffnungen, die er in seinem Leben mit den Indianern verbunden hat, haben sich offenbar nicht erfüllt. „Von wegen Wir sind das Volk. Wir sind die Luschen“, sagt er. 
Auf dem Weg zum Ausgang begegnen wir noch einmal der deutschen Lakota-Squaw, die nun aussieht wie eine Western-Lady, an ihrer Seite ein als General oder Händler kostümierter Mann. Es herrscht allgemeines Unverständnis darüber, dass wir jetzt schon abreisen wollen, ohne uns die nächste große Indianer-Tanzshow anzuschauen. Wir sagen, wir hätten einfach keine Lust mehr auf eine weitere Nacht im Tipi und noch mehr Bier und der letzte Zug nach Berlin gehe eben schon so früh. Der General lädt uns ein zum nächsten Treffen in eine Westernstadt in Süddeutschland. Da sei es noch toller und authentischer als in Templin. Man schlafe auf Fellen und backe sich sein Brot selbst. Strom sei verpönt. Wir danken und schleppen unsere Rucksäcke zum Ausgang. Ein Taxi bringt uns in die Gegenwart zurück.

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