Weihnachten zu Hause bei meinen Eltern, das hieß immer: Kaffeetrinken, Bescherung, Fondue, viel Sekt, viel Rotwein. Gar nicht so schlecht also. Aber irgendwann musste ich noch mal los in die nahe gelegene Kleingroßstadt, wo ich Abitur gemacht habe, um all die Schulfreunde zu treffen, die wie ich die Provinz verlassen hatten, um einmal im Jahr zurückzukehren. Wer jetzt wo wohnt, wer jetzt was macht und wer blöderweise nie weggezogen war – das waren so die Fragen, die in den brechend vollen Kneipen am Heiligen Abend erörtert wurden. Und natürlich wurde auf den im Familienkreis genossenen Alkohol ordentlich Bier gekippt.
Die Absturzkneipe meiner Wahl hatte direkt etwas Großstädtisches, fast was von Berlin: Der zugedröhnte Wirt sah mit seinem derangierten Lockenkopf ein bisschen aus wie der junge Bob Dylan. Er spielte rigoros und ohne Rücksichtnahme auf die Gäste seine Lieblingsmusik – lauter Krautrockklassiker mit psychedelischen Endlosschleifen. Reinste Drogenmusik, die mich schließlich mit einem Briefchen in der Hand auf das versiffte Männerklo trieb, auf dem es noch die gute alte Pissrinne gab.
Das Pulver hatte mir ein Freund zugesteckt, dessen aufgekratzte Stimmung ich sofort als drogeninduziert entlarvt hatte. Auf dem Klo schüttete ich das Kokain auf den Toilettendeckel. Ich nahm gleich mal ein bisschen mehr, wer wusste denn, ob mich der zugeknallte Kamerad noch einmal zum Zuge kommen ließ. Und dann bestand ja auch die Möglichkeit, dass er unbemerkt die Kneipe wechseln würde. Ich gönnte mir also eine ziemlich große Line – selbst für in Deutschland erhältliches Kokain, wovon man ja immer recht viel nehmen muss, um überhaupt was zu merken. Vor allem aber viel zu groß für das, was es tatsächlich war.
Die Wirkung setzte schon bei der Rückkehr in den knüppelvollen Gastraum ein. Ein wohliges Klar- und Nüchternwerden, eine grenzenlose Lust, zu reden, zu rauchen und zu trinken. Eins war von Anfang an seltsam. Während man beim Koksen schon in der Hochphase an das bald einsetzende Nachlassen der Wirkung denkt und entsprechend fickrig wird, kam ich diesmal gar nicht auf den Gedanken an Nachschub. Das Zeug wurde immer stärker. Oder besser: Es blieb die ganze Zeit stark.
Ich trank, ich redete, ich malmte mit dem Kiefer, ich merkte, wie sich Schaum in meinen Mundwinkeln bildete. Ich rauchte Kette, wobei mir jede einzelne Zigarette sagenhaft lecker schmeckte. Ich wurde immer wacher, während die anderen um mich herum merklich abbauten. Sie schauten mich stumm an, wobei mir nicht klar war, ob sie das, was ich erzählte, so faszinierend fanden oder schon innerlich Fluchtpläne schmiedeten, um mich endlich loszuwerden. Jedenfalls wurde der Laden immer leerer, und ehe ich mich versah, saß ich ganz allein am Tresen und fragte mich, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Und auch, was ich jetzt tun sollte. Denn nach Hause zu gehen kam gar nicht in Frage.
In Berlin wäre das auch kein Problem gewesen, aber in dieser Stadt schon. Es war klar, dass keine Bar mehr aufhaben würde. Dass die Straßen wie leer gefegt sein würden. Aufgekratzt, mit geschätzten drei Promille Alkohol im Blut (die sich nicht im Geringsten bemerkbar machten) lief ich durch die tote Stadt. Mittlerweile hatte sich zu meiner allgemeinen Unersättlichkeit auch noch ein gehöriger sexueller Appetit gesellt. Es wurde immer schlimmer: Ich musste komplett besoffen sein, merkte aber nichts davon. Ich war seit 20 Stunden unterwegs, aber hellwach. Ein Weihnachtsmonster, das mit einem Puls von 140 durch eine leere Fußgängerzone in einer badischen Provinzstadt taumelte.
Ich überlegte, wen ich besuchen könnte, und schließlich fiel mir eine alte Schulkameradin ein, die einst beim örtlichen C&A in der Unterwäscheabteilung gearbeitet hatte, wo sie sich bei den Slips und Bodys bediente. Zumindest dachte ich das damals, wenn ich mit ihr im Bett landete. Ein Aufeinandertreffen zweier junger Organismen voll siedender Hormone – bar jeder Romantik, was mir als 17-Jähriger gut gefallen hatte. Und was mir auch jetzt gut gefallen würde, dachte ich.
Ich erinnerte mich an die Adresse und drückte auf den Klingelknopf. Nichts passierte, erst nachdem ich mehr oder minder Sturm geklingelt hatte, wurde mir geöffnet. Sie stand oben in der Wohnungstür, blinzelte mich verschlafen und ungläubig an und ging zurück in ihr zerwühltes Bett. Ich setzte mich dazu und fing an, auf sie einzureden. Endlich hatte ich ein neues Opfer für mein Redebedürfnis gefunden, das selbst meine Geilheit überdeckte. Ihre aber nicht. Ganz plötzlich richtete sie sich auf, um mich mit einem Kuss zum Verstummen zu bringen. Augenblicklich gefiel mir das Küssen besser als das Reden und das Streicheln besser als das Küssen. Und was dann kam, gefiel mir am besten. Ich war wieder 17.
Zwei Stunden später schlief sie, ich aber nicht. Ich lag wach im Bett und sah durch die Schlitze in den Jalousien, dass es draußen hell wurde. Schon wieder erfüllte mich ein großer Tatendrang. Ich zog mich an, schlüpfte nach draußen und überlegte, ob ich in die Kirche gehen sollte, denn von irgendwoher hörte ich Glocken. Stattdessen ging ich zur Bushaltestelle, um zu meinen Eltern zu fahren. Ich saß zwischen lauter feiertäglich adretten Landmenschen und überlegte, was ich statt Kokain genommen hatte. Welches Pulver mich so in Fahrt gebracht hatte. Speed? Auch da ist ja irgendwann mal Schluss. Crystal? Das kannte man damals noch nicht, aber heute weiß ich, dass es das schon gab. Und war das Pulver, das ich mit meiner Kreditkarte unter auffälligem Knirschen portioniert hatte, nicht ziemlich kristallin?
Innerlich weiter unter Strom, körperlich an der Grenze zur Dehydration, saß ich mit meinen Eltern am Frühstückstisch und goss Kaffee in mich hinein. Oder sagen wir: icht ich, eher eine Zombieversion von mir, die für meine drogenunerfahrenen Eltern ein absolutes Rätsel darstellen musste. Und zwar den ganzen Tag, an dem ich die Gemeinschaft suchte, aber nur, um mein Ego durch die Schlaumeiereien, die ich von mir gab, zu füttern.
Am späten Abend vor dem Kamin war ich wieder der Letzte. Es war zwei Uhr nachts, ich war 42 Stunden wach. Mein Vater, der mir gegenübersaß, muss unendliche Qualen im Gespräch mit mir gelitten haben. Voller Scham wurde mir bewusst, dass ich den armen Kerl mehrere Stunden vollgequatscht hatte. Beim Blick auf meinen halb wegdämmernden Vater, der zu höflich und liebevoll gewesen war, mich zu unterbrechen, wurde ich endlich nüchtern.