Last man standing
Wenn es nichts mehr zu verbrennen gibt, musst du dich selbst anzünden: die Geschichte von Levon Helm, Sänger, Schlagzeuger, Verlierer – und Sieger

Von Dirk Gieselmann

Ist einer, der alles gibt und am Ende nichts mehr hat, ein Verlierer? Einer, der alle Geschichten erzählt hat, die es zu erzählen gab? Ein Sänger, der verstummt? War Levon Helm ein Verlierer? Dieser Mann, der in die Bar kam und rief: „Let’s spend it all?“
Allein wie er sich die Zigarette anzündete: Er riss das Streichholz an, ließ es brennen und blickte hinein wie in ein Lagerfeuer. Dann begann er zu erzählen. Vom ersten Konzert seines Lebens, in Memphis, 1955. Elvis Presley auf der Bühne, gerade 20 Jahre alt. Bei Gott, welch eine Kraft! Helm lächelte sein Fuchslächeln, erzählte weiter. Von Carl Perkins, Bo Diddley, Sonny Boy Williams, den Erfindern des one, two, three, four, den Helden seiner Jugend. Das Streichholz brannte, die Flamme verschwand zwischen seinen Fingern. Er erzählte, wie Gospel, Blues, Country und Folk verschmolzen, damals, in der immerfeuchten Hitze Tennessees. Was denn dabei herausgekommen sei, fragte ihn jemand aus dem Hintergrund. Helm sagte: „Rock ’n’ Roll, mein Junge!“ und lächelte. Dann erst hob er die Hände zum Gesicht, und es war, als zündete er die Zigarette an sich selbst an. Er nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch aus, lächelte. Rock ’n’ Roll, mein Junge: Wenn es nichts mehr zu verbrennen gibt, musst du dich selbst anzünden.
Levon Helm: der große Raucher, große Erzähler, große Musiker, große Mann. Es ist eine Backstage-Szene aus „The Last Waltz“, dem legendären Film von Martin Scorsese über das Abschiedskonzert von The Band, deren Schlagzeuger und Sänger Helm war. Gedreht an Thanksgiving 1976 im „Winterland“ in San Francisco, nach 16 Jahren auf Tour. In die Kinos gekommen erst 1978, weil es so lange gedauert hatte, bis man Neil Young, der mit seinem Song „Helpless“ einen irisierenden Gastauftritt feierte, die Kokainreste aus dem Gesicht retuschiert hatte. Andere Wegbegleiter von The Band, wie Bob Dylan, Eric Clapton, Van Morrison, Neil Diamond und Dr. John, gaben sich ebenfalls die Ehre, putzten sich aber vorher immerhin die Nase. „The Last Waltz“ ist auch das Abschiedskonzert der nicht mehr ganz so jungen Götter des Rock. Es entließ sie in einen nicht enden wollenden Lebensabend, den sie irgendwie mit Greatest-Hits-Alben totzuschlagen versuchten.
Für The Band fiel in jener Nacht tatsächlich der Vorhang. Das von Helm gesungene „Don’t Do It“, ein herzrasendes Marvin-Gaye-Cover, war der letzte Song, den sie in ihrer Stammbesetzung spielten. „I sacrificed to make you happy / kept nothing for myself“, sang Helm, schlug ein letztes Mal auf das Crash-Becken, stand auf und sagte: „Good night, goodbye.“ Das war’s, Leute. Wer den Streifen erstmals sieht, ohne je von dieser Gruppe gehört zu haben, könnte glauben, er erlebe sie auf ihrem Zenit, nicht an ihrem Ende, so kraft- und lustvoll geht sie zu Werke. Und er könnte glauben, diese fünf Männer – Robbie Robertson an der Gitarre, Richard Manuel am Klavier, Rick Danko am Bass, Garth Hudson an der Orgel und eben Levon Helm – seien von Regisseur Scorsese handverlesene Schauspieler, die Musiker verkörpern, so sehr erfüllen sie die Erwartungen an Virilität, Eleganz, Empfindungskraft und geile Klamotten, die jeder Rock-’n’-Roll-Fan hegt.
Aber es gab ihn ja wirklich, diesen Levon Helm. Geboren 26. Mai 1940 in Elaine, Arkansas, als Sohn eines Baumwollfarmers. Gestorben am 19. April 2012 in New York City. Als würden Lebensdaten eine Rolle spielen bei einem Unsterblichen, Zeitlosen, ja irgendwie aus der Zeit Gefallenen. Er war der last man standing aus den Schlachten des 19. Jahrhunderts, ein Mann in staubigen Stiefeln, dessen Welt vor seinen Augen verschwand. Sein Heimatdorf, ein armseliges Bauernnest, holte sich noch zu seinen Lebzeiten die Natur zurück.
Wenn er trommelte und dazu sang, brüllte, heulte und jodelte, bei „The Weight“ etwa, „Up On Cripple Creek“ oder „The Night They Drove Old Dixie Down“, der großen, tiefen Hymne über die untergegangene Herrlichkeit des amerikanischen Südens, dann bekam man Heimweh nach einem Land, das man nicht kannte: Man fuhr auf dem Truck zurück in der Zeit, stieg um aufs Pferd und ritt bis in die Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, hinein in die noch rauchenden Trümmer des zerstörten Richmond, Virginia. „And all the bells were ringing / And all the people were singing ...“ Levon Helm war, wie Elton John befand, „der einzige Schlagzeuger, der einen Menschen zum Weinen bringt“.
Ein Lied konnte am Tag zuvor komponiert worden sein – wenn Helm es interpretierte, klang es, als wäre es 100 Jahre alt, entstanden im Dust Bowl, im Delta oder irgendeiner Hütte in den Appalachen. Schon als Kind hatte er jeden Abend vor dem Radio verbracht, der „Grand Ole Opry Show“ lauschend, einer Liveübertragung von Countrykonzerten aus einer Scheune in Nashville, Tennessee. „Levon Helm beschwört ein Amerikanischsein“, schrieb der Journalist John Poppy in einem Porträt von 1970, „das dich direkt in eine Art Heimat des Herzens transportiert. Das sind Versatzstücke unseres gemeinsamen Lebens auf diesem Kontinent. Und deswegen treffen dich seine Songs wie ein Geruch aus der Kindheit, der sofort satte, scharfe Erinnerungen in dir weckt.“
Helm war – vielleicht hielt er das Streichholz auch deshalb notorisch lange zwischen den Fingern – ein Bewahrer der verlöschenden Flamme. Einer, der singen konnte, wie John Steinbeck schrieb: vom Vergehenden und Vergangenen, von zehn Landarbeitern, die durch einen Traktor ersetzt werden, von den Verlierern in ihren Geisterstädten. Aber war er selbst auch einer? Ist einer, der heute von gestern erzählt, ein Verlierer?
Wie Alan Lomax, der akribische Sammler alten Liedguts, und Pete Seeger, der Troubadour mit dem Banjo, rettete Helm den Folk vor dem Vergessen. Doch im Gegensatz zu Lomax und Seeger führte er ihn auch in die Zukunft, indem er ihn an seine Beats koppelte und so maximal beschleunigte. „Let’s make it more danceable!“, rief er seinen Kollegen durch den Proberaum zu. Ohne ihn würden heute Millionen von retrobewegten Vollbartträgern, die mitten in den modernen Metropolen der Holzfällerromantik verfallen sind, an ihren Plattenschränken ins Leere greifen. Ohne ihn gäbe es weder Wilco noch Arcade Fire.
1965 begleitete The Band Bob Dylan auf jener berüchtigten Tournee, bei der er erstmals elektrisch spielte. Selbst ernannte Gralshüter, junge Typen in schwarzen Rollkragenpullovern, das Sartre-Bändchen in der Jacketttasche, buhten die Musiker von der Bühne, beschimpften Dylan als Judas. Beim Newport Folk Festival konnte Pete Seeger nur mit Mühe davon abgehalten werden, die Stromversorgung mit einer Axt zu kappen. Sein Vater, der greise Komponist Charles Seeger, hatte sich über den Krach beschwert. Dylan spornte The Band zwar an, lauter zu spielen, immer lauter, durchzuhalten, hart zu bleiben. Doch Helm war härter als alle: Er warf die Brocken hin. „Ich habe nicht angefangen, Musik zu machen, um mich von solchen Spinnern abfucken zu lassen“, sagte er, kehrte zurück nach Arkansas und heuerte später auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko an.
Erst 1968 gelang es Robbie Robertson, ihn zum Weitermachen zu bewegen. In Saugerties, New York, nahm The Band ihr erstes eigenes Album auf, „Music From Big Pink“, benannt nach dem rosa gestrichenen Haus, in dem es entstand. Ohne Helm wäre es eine Platte geworden, die man ohne weiteres auch den schmalzigen Eagles hätte unterschieben können. Mit ihm wurde es ein Meilenstein des Roots Rock, hölzern, ledern, steinig, sandig – zu einer Zeit, da die Beatles, die Rolling Stones und Pink Floyd ihre Musik in einer psychedelisch blubbernden Marshmallow-Sauce ertränkten. Zu Helms Bassdrum-Schlägen und seinem Tenorgesang fuhren Dennis Hopper, Peter Fonda und Jack Nicholson in „Easy Rider“ als verspätete Pioniere in verkehrter Richtung durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Von Westen nach Osten. Zurück in ein sagenhaftes Gestern.
Auch Helm durchmaß weiterhin dieses dreckige Goldland auf der Suche nach dem ersten und dem letzten Song, den es zu singen galt. Nach dem Ende von The Band im Jahr 1976 nahm er Soloalben auf, spielte mit Johnny Cash und Emmylou Harris und dann und wann auch wieder mit den alten Kollegen Richard Manuel und Rick Danko. Beide gingen früh. Manuel erhängte sich 1986 in einem Hotelzimmer in Winterpark, Florida, mit einem Gürtel. Helm selbst fand den leblosen Körper seines besten Freundes und schnitt ihn herunter. Danko spritzte Heroin, soff und fraß sich zu Tode. Der einst schönste Mann des Rock ’n’ Roll, Janis Joplins heimliche große Liebe, war zum Schluss zu einem bedauernswerten Walross aufgequollen. Er starb 1999 in Woodstock, New York.
Rick Danko war Levon Helms Backgroundsänger gewesen, und als der eine für immer verstummte, verlor der andere seine Stimme. Vielleicht ist dies eine bittere Pointe der Rockgeschichte, vielleicht lag es auch bloß an den Myriaden von Zigaretten, drei zu jeder Geschichte, die es zu erzählen gegeben hatte: Eines Morgens brachte Levon Helm nur noch ein Krächzen hervor, bald noch nicht einmal mehr das. Diagnose: Kehlkopfkrebs. Ist ein Sänger, der verstummt, ein Verlierer?
Der Regisseur Jacob Hatley hat Levon Helm in den Jahren seiner Krankheit begleitet. Sein Film „Ain’t In It For My Health“ zeigt den einstmals so aufrechten Mann als zusammengefallenen Greis. Statt des berühmten Fuchslächelns blitzte in dem erschreckend großmütterlichen Gesicht eine viel zu große Gebissleiste aus Keramik. Seine Zähne büßte Helm bei der Strahlentherapie ein, er musste Schläuche schlucken. Hatley zeigt ihn bei den martialischen Behandlungen, er zeigt ihn auch bei den ersten Versuchen, wenigstens wieder Schlagzeug zu spielen. Es sei alles ganz einfach, er singe ja bloß in die Lücken hinein, die der Beat ihm lasse, hatte Helm früher mal gesagt. Jetzt aber war in diesen Lücken plötzlich nichts als Schweigen und der Beat nur noch ein verfrühter Trauermarsch. Um seine Therapie zu finanzieren – er war, wie die meisten amerikanischen Musiker, nicht krankenversichert –, gab Helm dennoch weiterhin Konzerte, bei denen andere seine Lieder sangen. Wer sich Aufzeichnungen ansieht, wird feststellen: Er sah dabei etwas zu fröhlich aus.
Nach langer, schmerzhafter Behandlung kehrte seine Stimme noch einmal zurück. Doch sie klang anders. Auf seinem Album „Dirt Farmer“ von 2007, dem ersten nach der Krebsdiagnose, hört man Helm als uralten Propheten, als blinden Seher, der den Tod ahnt, den eigenen wie den der Welt, die er besingt. Es ging in seinen Liedern jetzt nicht mehr um junge Mädchen, die in Lake Charles, Louisiana, sehnsüchtig auf ihn warten. Ja, nicht einmal mehr um den Mann, der seiner spröden Scholle die karge Ernte abringt. Der „Dirt Farmer“, Bauer der Apokalypse, pflanzt von vornherein nur Steine an. „He rolls them on down / To the tax man in town“. Levon Helm bekam für das Album einen Grammy.
Ist einer, den der Krebs besiegt, ein Verlierer? Als The Band im Februar 2012 in die Hall of Fame des Rock ’n’ Roll aufgenommen wurde, konnte Levon Helm schon nicht mehr anwesend sein. Zwei Monate später starb er in einem New Yorker Krankenhaus im Kreise seiner Familie. Er wurde 71 Jahre alt. Zu jung für einen alten Mann, zu alt für einen jungen. Aus der Zeit gefallen wie seit jeher. „Levon kam aus einem Ort in der Vergangenheit. Dahin ist er jetzt zurückgekehrt“, sagte Bruce Springsteen bei einem seiner Konzerte wenige Tage nach Helms Tod. Dann spielte er dessen Lied „The Weight“.
„Catch a cannonball now / to take me down the line“, heißt es darin. „My bag is sinking low / and I do believe that it’s time.“ Wohin geht die Reise diesmal, Levon Helm?