Wir hatten Steve im Prospect Park kennengelernt, es war ein sonniger
Tag, er war mit seinem Sohn zum Spielen dort, und er hatte sogar
die gleichen Sachen an wie sein Sohn, nur in Erwachsenengröße: Batikshirt,
Shorts und Crocs an den Fü.en. In Brooklyn benutzen
viele Eltern ihre Kinder als Vorwand, um sich ein bisschen downzudressen.
So ein Brooklyn-Dad war also auch Steve. Er trug seine
Haare lang, in einer Art Pagenschnitt, er musste sie sich aus dem Gesicht
wischen, wenn er lachte, und das tat er häufig. Außerdem war
er im Begriff, einen Laden für Tee aufzumachen in Park Slope.
Die Sache war eigentlich klar. Steve war anscheinend ein Hippie. Ein
Hauch von Heilpraktiker und Jefferson Airplane umwehte ihn.
Bis Steve anfing, auf Brooklyn zu schimpfen, beziehungsweise
das, was daraus geworden war. Im ganzen 78. Polizeidistrikt
seit Jahren kein Mord, kaum mal eine Vergewaltigung, nur noch gelegentlich
mal ein iPhone-Diebstahl: lächerlich. Als er hier aufwuchs,
unten in Marine Park, als einziges jüdisches Kid unter Schwarzen und
Latinos, da lag noch jeden Tag ein Toter auf der Straße. JEDEN Tag.
MINDESTENS einer. Drogen, Bandenkriege, Rassenkram, manchmal
auch ein über die Ufer getretener Ehestreit. DAS war Brooklyn.
Nicht wirklich Brooklyn hingegen: diese Lifestyle-Scheiße in Williamsburg,
dem einzigen Ort in den Vereinigten Staaten, wo die Jungs
engere Jeans anhaben als die Mädchen und nachts vollkommen dicht
durch die Straßen taumeln. Das hätte früher kein Mensch überlebt,
sagte Steve, und jetzt lachte er nicht mehr, dafür leuchteten aber seine
Augen. Irgendwie schien er das damals besser gefunden zu haben
als heute, echter, brooklynesker, New-York-mäßiger.
Solche Geschichten hört man in der Stadt ständig. Normalerweise
hört man sie natürlich von Ausländern, die von „New York
früher“ erzählen wie Kriegsreporter vom Sudan. Bis in die 90er Jahre
hinein gehörte für einen Touristen der Überfall so zu New York wie die
Hochhäuser. Keiner, der nicht die Regel beherzigt hätte, für den
Notfall 20 Dollar in der Hosentasche zu haben. Und keiner, dem auch
bei ausgebliebenem Überfall nicht zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit
noch nachträglich die Würze der Erinnerungen war.
H.K., der in den Achtzigern als Taxifahrer in New York gearbeitet
hat, erzählte neulich in Berlin erst wieder von der Gehirnmasse,
die manchmal nach einer Schießerei unter Dealern noch tagelang
auf dem Pflaster von Alphabet City klebte, wo er damals wohnte. Neukölln
ist für so jemanden heute natürlich ein Witz.
Und J.M., der schon Anfang der Siebziger aus Frankfurt ins
West Village gezogen war, gab vor ein paar Wochen bei einem Cocktailempfang
in Midtown zum Besten, wie er jahrzehntelang nach dem
Kino oder dem Theater regelmäßig nach Hause gerannt ist aus purer
Angst um sein Leben. Als delightful horror für den Party-Smalltalk ist
so etwas heute in dieser Stadt natürlich pures Sozialkapital. Denn
die New Yorker lieben Geschichten über die Gefährlichkeit ihrer Stadt.
Das ist immer ein bisschen sonderbar. New York mag zwar eine überschaubare
Stadt sein verglichen mit wirklich großen, wirklich gefährlichen
Orten wie São Paulo oder Mexiko-Stadt, aber ein Provinznest,
das zum Ausgleich auf diese Art von Gefährlichkeitspatriotismus
angewiesen wäre, ist es ja nun auch nicht unbedingt. Gefährlichkeitspatriotismus
ist eine Art von Großstadt-Stolz, die etwas
Kleinstädtisches und Geltungssüchtiges hat.
Hier ein paar Mutmaßungen dazu: Die New Yorker leben
in einem blöden Dilemma. Durch die Law-and-Order-Bürgermeister
Giuliani und Bloomberg ist tatsächlich in weiten Teilen New Yorks
eine Sicherheit eingekehrt, mit der die Stadt bis heute gar nicht recht
umzugehen weiß. In den Polizeinachrichten, dem eigentlichen
Kernressort der „New York Post“, kommt Manhattan inzwischen an
den meisten Tagen der Woche gar nicht mehr vor. Es wird dort
inzwischen
bis nach Harlem hoch kaum noch jemand getötet. Selbst
die westlichen Teile von Brooklyn und Queens bieten immer weniger.
Von Staten Island mal ganz zu schweigen, denn dort wohnen ja
fast nur Polizisten.
Wenn es die South Bronx und die östlichen Teile von Brooklyn nicht
gäbe, wo immer wieder ein paar Leute erschossen werden, müsste
sich New York um seinen Ruf Gedanken machen. Das Dilemma besteht
jetzt darin, dass die weißen liberalen Mittelschichten, deren
Lebensqualität am meisten dazugewonnen hat, natürlich die Letzten
sind, die Law-and-Order-Politiker wie Giuliani oder Bloomberg gut
finden dürfen. Dann kriecht wie Giftgas auch dieses Gefühl durch die
Straßen und Avenuen, dass New York ein bisschen öde geworden
sein könnte, so wie der Times Square jetzt zwar grell beleuchtet und
von Touristen überlaufen ist, aber eben: langweilig.
Hier hat die Mord-und-Totschlagsnostalgie gewissermaßen
kompensatorische Gründe und dient zur Beschwörung einer Authentizität,
deren Abhandenkommen unentwegt beklagt wird. Man
will ja schon auch, dass New York immer noch eher dem New
York aus den New-York-Filmen gleicht als, sagen wir: Oklahoma City.
Das andere ist, dass New York natürlich trotzdem und
jetzt erst recht ein sagenhaft brutaler Ort ist. Nur sind die Fäuste und
Kugeln von heute die Preise. Man kriegt sie in den Bauch geschossen,
man möchte sich krümmen, man möchte schreien, eigentlich
möchte man auch kotzen, aber man darf keinen Schmerz zeigen;
man muss sich dauernd zu einem eisernen Lächeln zwingen, wenn
man die Kreditkarte hinlegt, und darf, wenn überhaupt, erst draußen
zusammensacken oder zu Hause, solange man noch eines hat.
Die extreme Gewalttätigkeit der Lebenshaltungskosten in
New York ist nicht nur eine Entsprechung zu der eher handfesten
Gewalt von früher, sie ist sogar ihr logischer Ersatz. Auch das ein
Grund, warum das Wirken der Bürgermeister Giuliani und Bloomberg
denen, die es im Prinzip schon ganz gut finden, dass man nicht
mehr im Central Park überfallen oder in Bushwick als Leiche auf den
Müll geworfen wird, nicht wirklich geheuer ist. Denn die Kosten
für die Sicherheit werden letztlich auf dem Wohnungs- und im Supermarkt
bezahlt. Sicher heißt über kurz oder lang teuer. Insofern sind
die nostalgischen Beschwörungen des brutalen Früher auch ein
strategischer Notwehrreflex. Damals war ein Menschenleben in New
York vielleicht weniger wert, aber das heißt auch: Es war bezahlbarer.
Die Gefährlichkeitsnostalgie ist das New Yorker Biedermeier.
Unser Freund war also tatsächlich ein Hippie, und zwar niemals
mehr als in diesem Moment, als er von den guten alten blutigen Zeiten
erzählte. Und von den drei Bunkern, die er außerhalb der Stadt unterhält,
jeder einzelne mit Waffen, Munition und Lebensmitteln für
mindestens zwei Monate. „Terrorismus, Hurrikans, Atombomben –
Alter, wenn es irgendwo passiert, dann hier. New York ist immer noch
die gefährlichste Stadt der Welt.“
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So schön wird´s nie wieder
Will einen denn in New York gar keiner mehr überfallen?
Von Peter Richter