Ein Siegel der Verschwiegenheit kann sogar Banales zum Geheimnis machen. Erst mit diesem Lack wird Unerhörtes richtig spannend. So verpackt, kann das bloße Gerücht wie eine Tatsache wirken und üble Nachrede zuweilen ehrlich. Das gehört seit jeher zum politischen Geschäft, und somit zum Journalismus.
In Deutschland gibt es für das Verschwiegenheitssiegel eigens eine Bezeichnung, die quasi amtlich ist: „unter 3“. Politiker versiegeln damit in nahezu jedem ihrer Gespräche mit Journalisten einiges von dem, was sie eben gesagt haben. Sie brauchen bloß „unter 3“ zu raunen, und ihr Zuhörer versteht die volle Übersetzung dieses Codes: vertraulich! Das sage ich jetzt nur Ihnen. Sie dürfen keinem verraten, von wem Sie’s wissen. Bloß nicht mit meinem Namen in Verbindung bringen. Würde ich drauf angesprochen – ich würde alles dementieren und Sie einen Lügner nennen. Dann würden Sie nie wieder etwas von mir erfahren!
„Unter 3“ hat aber nichts mit der Anzahl der Zuhörer zu tun. Es bezeichnet die höchste Geheimhaltungsstufe für den Journalisten. Das Verrückte ist: Diese Regel haben die Journalisten einst selbst erstellt. Sie haben den Maulkorb entworfen und juristisch säuberlich vernäht, den Politiker ihnen nun nach Belieben umschnallen dürfen. Die Idee dazu war durchaus edel. Es sollte wirklich freien Journalismus in Deutschland ermöglichen. An dem Tag, als Konrad Adenauer 1949 in Bonn zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde, formierte sich auch die Bundespressekonferenz. Das ist ein weltweit einzigartiger Verein. Es sind nämlich alle für politische Berichterstattung akkreditierten Journalisten, heute etwa 900. Das Ziel dieses Vereins war und ist es, möglichst objektive sowie für alle Journalisten gleiche Informationen von Politikern zu bekommen, ob sie nun für die „Bergedorfer Zeitung“ schreiben oder den „Spiegel“. Kaminrunden, Hinterzimmertreffen, Freundschaftsklüngel – all das sollte auf diese Weise überflüssig werden.
Weil Regierungen in vielen Ländern der Erde wenig Lust auf kritische Fragen haben, halten sie selten Pressekonferenzen ab. Selbst der amerikanische Präsident kann Kreuzverhören ein Ende setzen, wenn es ihm zu bunt wird: „Last question please“, sagt er dann mit Blick auf die Uhr und sucht sich selbst aus, wer ihm für ein hübsches Schluss-Statement noch das Stichwort liefern darf. Das kann in Deutschland kein Politiker, der vor der Bundespressekonferenz spricht. Denn dort bestimmen die Journalisten die Regeln. Der von ihnen gewählte Konferenzleiter sagt, wann Schluss ist, und auch, zu welchen Themen gefragt wird.
Damit auf diesen Pressekonferenzen auch wirklich mehr zu erfahren ist als allgemeines Blabla, hat sich der Verein nach der Gründung feste Regeln geschaffen: In der Satzung heißt es unter Paragraf 16: „Die Mitteilungen auf den Pressekonferenzen erfolgen:
unter 1. zu beliebiger Verwendung
unter 2. zur Verwertung ohne Quelle und ohne Nennung des Auskunftsgebenden oder
unter 3. vertraulich.“
Der Gast, also der Politiker, darf sich aussuchen, wie er seine InfoÍÍÍrmationen behandelt wissen will. Wählt er nichts aus, gilt alles Gesagte „unter 1“, es darf also jedes Wort von ihm veröffentlicht werden. Wählt er „unter 2“ oder „unter 3“, dann drückt der Journalist, der die Konferenz leitet, einen Knopf. Dadurch wird die Übertragung der Pressekonferenz nach außen gekappt, zumindest übertönt dann ein fieses Piepen die Antwort des Politikers so lange, bis der wieder „unter 1“ redet. Die Fernsehkameras müssen derweil ausgeschaltet werden, und jede Tonaufnahme ist verboten. Diese Abstufung sollte dem Gast ermöglichen, wirklich umfangreich zu antworten, ohne jedes Wort zu wiegen und zu wägen. Die Journalisten wollten so ganze Zusammenhänge kennenlernen, wissen, was der Kanzler wirklich denkt.
Zuweilen sagen Regierungssprecher oder Kanzlerberater etwas „unter 2“. Meist, wenn es um Vorbereitungen irgendwelcher Gipfeltreffen geht. Die Journalisten dürfen dann nicht schreiben: „sagte Merkels Sprecher“, sondern nur allgemein: „hieß es in Regierungskreisen“. Alles „unter 3“ Gesagte darf, streng genommen, gar nicht irgendwo auftauchen. Wer sich an diese Regel nicht hält, riskiert „den Ausschluss aus dem Verein“, heißt es in der Satzung der Bundespressekonferenz.
Tatsächlich ist aber „unter 3“ auf solchen Bundespressekonferenzen so gut wie nie Spannendes zu erfahren. Politiker benutzen diese Formel selten – allerdings nur in diesem Rahmen, wo sie eigentlich hingehört. Woanders stellen sie ganze lange Abende unter diese kategorische Regel. Sie hat eben nicht verhindert, dass es vertrauliche und ganz exklusive Runden zwischen Politikern und Journalisten gibt. In sogenannten Hintergrundkreisen wird nur „unter 3“ geredet. Wer davon etwas ausplaudert, fliegt raus.
Da lästern dann Politiker über ihre Parteifreunde, dort verhöhnen die Regierenden andere Staatsmänner als „Spinner“ oder bezeichnen einen – natürlich nicht anwesenden – Chefreporter als „Wichser“. Aber sie geben natürlich nichts preis, was die Journalisten nicht wissen sollten. Denn die Stimmung sollen sie schon kennen, stets bedenken, dass der Minister Hinz derzeit ganz schlecht angesehen ist bei der Chefin. Und dass es über die Co-Vorsitzende Kunz ja diesen üblen Vermerk gibt, aber zitieren Sie mich bloß nicht! Auch, dass eigentlich jeder im Parteipräsidium den Bundespräsidenten inzwischen unerträglich findet. „Unter 1“ klingt das allerdings dann so: „Diese Hetzjagd auf unser Staatsoberhaupt ist unwürdig und sollte endlich aufhören!“
Kurt Beck ist wegen dieser „Unter 3“-Regelung gestürzt, weil er sich zu sicher fühlte. Bei Wein und Bier im Journalistenkreis hat er laut über mögliche Koalitionen mit den Linken nachgedacht, die er öffentlich kategorisch ablehnte. Das drang nach draußen – und Beck war bald sein Amt als SPD-Vorsitzender los. In der Regel aber können sich die Politiker darauf verlassen, dass es läuft, wie sie wünschen: Die Informationen, die sie „unter 3“ geben, kommen ans Licht. Ihr Name aber wird dazu nicht genannt, und alles Gesagte bleibt unter Verschluss.
In Frankreich sind Journalisten weniger verschwenderisch mit ihren Notizen. So schrieb der langjährige Chefredakteur des konservativen „Figaro“ munter auf, was er im Laufe von zwei Jahrzehnten alles von Jacques Chirac vertrauensselig in seine Spiralblöcke diktiert bekam. Ein Bestseller über den Präsidenten wurde das, der Frankreich schockierte – und vor allem Chirac. Autor Franz-Olivier Giesbert rechtfertigte das Lüften der vielen üblen Politiker-Geheimnisse mit dem wahren Satz: „Wer etwas im Dunkeln belassen will, lässt sich lieber nicht mit Journalisten ein.“