Womit hab’ ich das verdient?

So eine Scheiße: Jetzt wird mein Junge konservativ

Von Chris Johnson

Wo bleibt Max nur? Vor fast einer Stunde ist er im Badezimmer verschwunden und hat die Tür hinter sich verschlossen. Ab und zu höre ich den dröhnenden Föhn: an und aus und wieder an und aus. Ansonsten dringt kein Ton nach draußen. 
Endlich! Die Tür öffnet sich, und die Treppe herunter kommt ein gescheitelter, gegelter 12-Jähriger mit akkurat sitzendem Hemd und grauer Anzughose – die Bügelfalte messerscharf, die schwarzen Halbschuhe blitzeblank. „Max, bist du’s wirklich?“, frage ich meinen Sohn. 
Statt einer Antwort mustert er mich missbilligend. „So willst du jetzt nicht wirklich mit mir zu dem Vorstellungsgespräch gehen, oder?“ Ich trage Jeans, Pullover und eine Lederjacke und hatte nicht vor, mich am Samstagvormittag zu verkleiden, um meinen Sohn zum Aufnahmegespräch in ein katholisches Gymnasium zu begleiten. Kurz vor den Sommerferien hatte Max meiner Frau und mir mitgeteilt, dass er von seiner bisherigen liberalen reformpädagogischen Schule auf ein katholisches Gymnasium wechseln will. Ich betone: Er will! 
Als er meiner Frau und mir seine schon im Internet recherchierten Hamburger Schulen präsentierte, haben wir zunächst geschmunzelt. Ehrlich gesagt, wir haben seine Idee nicht so ganz ernst genommen. Meine Frau versuchte sich und mich zu beruhigen: „Max ist nicht getauft, du bist Protestant, und ich bin aus der Kirche ausgetreten. Die nehmen ihn niemals.“ 
Ein mulmiges Gefühl überkam uns trotzdem. Hatte Max doch in den vergangenen Monaten einen eigenartigen Wandel vollzogen. Er ist politisch in Opposition zur Familie gegangen, kritisiert ständig meine „fürchterlich grüne Einstellung“ und die Mitgliedschaft meiner Frau in einer „ätzenden linken Gewerkschaft“. Irgendwann ist er dann nach der Schule mit dem Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin nach Hause gekommen. Er hatte es sich von seinem Taschengeld gekauft. „Wenn ich es durchhabe, solltest du es mal lesen“, riet er mir mit verschwörerischem Lächeln. Sein autodidaktisches Polit-Bildungsprogramm sieht seit Monaten in etwa so aus: Auf YouTube guckt er sich Auftritte des Rechtspopulisten Geert Wilders an, und er surft mit Begeisterung auf den Seiten islamfeindlicher Parteien wie der Schweizer SVP oder der italienischen Lega Nord. „Die schützen das christliche Abendland“, sagt Max. 
Ich habe mir Max’ eigenwilligen Blick auf die Welt bis dahin mit einer vorübergehenden pubertären Auflehnung gegen seine Eltern erklärt – bis zu dem Tag, an dem er zum Telefonhörer griff, um einen Vorstellungstermin in der katholischen Schule zu vereinbaren. 
Während ich mit Max nun im Vorzimmer der Vizedirektorin sitze, frage ich ihn das erste Mal, ob er sich sicher sei, dass es eine katholische Schule sein soll. 
„Ja, ich will auch so erfolgreich, einflussreich und wohlhabend wie Opa in Florenz werden. Und der war auf einer katholischen Schule und spendet immer noch ganz viel für die kirchlichen Schulen.“ 
„Ja, Opa Francesco ist katholisch und wohlhabend, aber was hat das miteinander zu tun?“ 
„Katholiken halten zusammen, und außerdem helfen sie sich gegenseitig mit Aufträgen und Jobs, hat Opa mir erzählt.“ 

Mein Einwand, dass seine Mutter doch aber aus der Kirche ausgetreten sei und keine guten Erinnerungen an ihre katholische Erziehung habe, kontert Max mit einem knappen und pastoralen „Mama hat sich verirrt, aber sie wird auch noch auf den rechten Weg zurückfinden.“

Jetzt weiß ich also Bescheid. Mein italienischer Schwiegervater steckt hinter der Aktion, hat er sich doch von Anfang an daran gestört, dass seine Tochter einen Protestanten geheiratet hat und ihr Kind nach der Geburt nicht katholisch taufen ließ. Und nun sitze ich hier mit genau diesem Kind in einem katholischen Hamburger Schulhaus. 
Endlich bittet uns die Vizedirektorin in ihr Zimmer. Sie sieht so aus, wie ich mir eine Nonne in Zivil vorstelle: Mireille-Mathieu-Frisur, eine hoch geschlossene Bluse, darüber eine unmodische, dunkelbraune Kostümjacke. Der Rock, dessen Farbe so unscheinbar ist, dass ich mich später nicht mehr daran erinnern kann, reicht bis über die Knie und verdeckt damit immerhin einen großen Teil der schrecklich hautfarbenen Strumpfhosen. Dagegen wirken ihre dunkelbraunen Pumps einigermaßen schick und modern. 
Selbstbewusst nimmt Max den ihm zugewiesenen Platz ein. Ich setze mich lautlos neben ihn. Ich fühle mich ein bisschen wie früher auf dem Sofa meiner Tante: beklommen und streng gemustert. Sie vermittelt etwas von: „Bitte sprechen Sie nur, wenn ich Sie etwas frage“, aber erst mal will sie von mir auch gar nichts wissen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit voll auf Max. Und bei dem, was ich von ihm höre, komme ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. 
Auf die Frage, warum er denn auf eine katholische Schule wechseln wolle, kommt eine gespielt nachdenkliche und in meinen Ohren ziemlich altklug klingende Erklärung. „Wenn ich meinen Opa in der Toskana besuche, erzählt er mir viel von Jesus und der Kirche. Jetzt weiß ich, was wirklich wichtig im Leben ist, und ich glaube, dass hier die richtigen Werte vermittelt werden. Nicht so wie in meiner alten Schule, wo es ja nicht mal katholischen Religionsunterricht gibt.“ 
Die Vizedirektorin schaut ihn mitfühlend an. „Das arme Kind“, denke ich auch fast, so überzeugend spielt Max seine Rolle. Auch auf die Frage, warum er denn nicht getauft sei, hat er eine schlüssige Antwort parat. „Ich halte das für einen Fehler meiner Eltern, aber ich konnte mich als Kind ja nicht dagegen wehren. Da mein Vater evangelisch und meine Mutter katholisch ist, wollten sie, dass ich als Jugendlicher selbst entscheide, ob ich mich taufen lassen will.“  
So wie Max „evangelisch“ betont, klingt es wie „ungläubig“. Und dass meine Frau aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, lässt er einfach unter den Tisch fallen. Und er setzt noch einen drauf: „Ich bin ja in allen Ferien in Italien. Dann gehe ich mit meiner Mutter und meinen Großeltern immer zur Messe.“ Gut, dass die Vize-Schulleiterin die ganze Zeit wohlwollend Max anschaut. Sonst wäre ihr sicher aufgefallen, dass mir einen Moment lang der Mund vor Staunen offen stand. Ist mir da etwas entgangen? Hat sich Max, der Langschläfer, im Urlaub morgens unbemerkt aus dem Haus geschlichen, um mit meinen Schwiegereltern in die Kirche zu gehen, oder warum tischt er der Oberlehrerin hier eine glatte Lüge auf? 
Mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn mein Sohn läuft zur Höchstform auf. Mehr und mehr erliegt die Nonne dem unverschämten Charme meines 12-jährigen Christenkindes. Als er die Frage, wie viel Zeit er denn am Computer verbringe, beantworten soll, scheint er genau zu wissen, was eine fromme Pädagogin milde stimmt. „Den Computer benutze ich nur, wenn ich Informationen für meine Hausarbeiten oder Referate suche. Ansonsten treffe ich mich eigentlich immer mit meinen Freunden draußen im Park zum Spielen“, erzählt er mit Lämmchenblick. 
Kein Wort erwähnt er dagegen von den Ballerspielen, die ihm sein streng katholischer Opa regelmäßig schenkt. Stundenlang jagt Max virtuelle Gangster und ist danach kaum noch ansprechbar. Und: Wann hat er eigentlich das letzte Mal draußen im Park Fußball gespielt? Ich kann mich nicht daran erinnern.  
Als die Mirelle-Mathieu-Kopie dann noch etwas über sein soziales Engagement wissen möchte, bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob der gescheitelte 12-jährige Snob, der hier vor einem großen Holzkreuz neben mir sitzt, wirklich mein Sohn ist. Max berichtet stolz, dass er an seiner jetzigen Schule „Konfliktlotse“ sei. Er schlichte Streits zwischen Schülern und vermittle bei Konflikten zwischen seinen Klassenkameraden und Lehrern. Die Vizedirektorin nickt zustimmend und lächelt. 

So geht das Frage- und Antwortspiel noch rund eine Viertelstunde weiter. Ich schwanke – zwischen Zweifeln, ob es gut gewesen ist, Max die Erlaubnis zu geben, sich bei einer katholischen Schule zu bewerben, und Stolz. Stolz auf meinen Sohn, der sich als zielstrebiger Stratege und brillanter Schauspieler entpuppt. 
Am Ende des Gesprächs verabschiedet uns die Vizedirektorin mit der Zusicherung, meiner Frau und mir in wenigen Tagen Bescheid zu geben, ob es mit einem Platz für Max klappt. 
Als wir das Schulgebäude verlassen haben, frage ich Max, ob er mit sich zufrieden sei. „Ja, nur bei der Frage nach dem Computerkram wollte ich eigentlich noch sagen, dass ich mich regelmäßig auf Katholisch.de informiere. Das habe ich total vergessen“, antwortet er selbstkritisch. Es verschlägt mir die Sprache. 
Als ich vier Tage später vom Joggen nach Hause komme, steht Max schon an der Gartentür. „Die Schulleiterin hat gerade mit Mama telefoniert, sie nimmt mich. Ich muss mich jetzt nur noch katholisch taufen lassen“, ruft er triumphierend. 
Zwei Wochen später wechselt Max die Schule, drei Monate später wird er getauft. Zur Messe geht er sonntags aber immer noch nicht. Dafür hat er jetzt neue Pläne. „Mit 14 trete ich in die Junge Union ein“, kündigt er an. Zum Glück vergehen bis dahin noch anderthalb Jahre. Und ich muss nicht mit zum Aufnahmegespräch.

Zum Heft