Fuck you all

Ohne alles: Warum der Freiheitsbegriff in den USA eine perverse Sache ist

Von Tobias Moorstedt

John Galt ist ein Hollywood-Held wie aus dem Bilderbuch: Der Eisenbahn-Tycoon aus dem Film „Atlas Shrugged“ ist 1,90 Meter groß, hat ein kantiges Kinn und volles, dunkles Haar. In einer Szene des Films sitzt John Galt in seinem Büro-Palast in einem schweren Ledersessel und stellt ohne Regung einen Scheck über 100.000 Dollar für ein Kinderheim aus. Klassisches Hollywood, denkt man sich: Der Held ist nicht nur reich, mächtig und schön, er denkt auch noch an die Armen und Schwachen und hat das Happy End immer im Blick. Dann aber sagt John Galt zu dem Bittsteller: „Damit wir uns recht verstehen. Die Kinder sind mir absolut egal.“ 
Der Film „Atlas Shrugged“, der im Frühjahr 2011 in den US-Kinos anlief, erzählt die Geschichte des gesellschaftlichen Aufstiegs von John Galt zum Industriekapitän und erfüllt durch teure Spezialeffekte und Hochglanzoptik die üblichen Hollywood-Standards – und ist doch kein Film wie jeder andere. John Galt ist der unbestrittene Held des Films und sagt doch permanent Sätze, die ihn eigentlich für die Rolle des Bösewichts in einem James-Bond-Filmen qualifizieren. 
„Atlas Shrugged“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans der Philosophin Ayn Rand, die in den sechziger Jahren so schöne Sätze schrieb wie: „Ich will die falsche Lehre des Altruismus abschaffen.“ 
Die ultraliberale Prophetin Rand ist – neben Ronald Reagan – die Ikone der amerikanischen Rechten. Galt und seine Partner blicken mit Verachtung auf Underperformer und Bedürftige, weil sie es satt haben, durch Transferleistungen und Steuern die Armen und Schwachen durchzufüttern: Am Ende des Films tritt die finanzielle und produktive Elite in einen Streik. Der Unternehmer vergleicht sich mit Atlas, dem Titanen, der die Welt auf den Schultern trägt. Warum tut sich Atlas das an, fragt Galt. Was passiert, wenn er mit den Schultern zuckt und sich befreit von der Welt?

Um Amerika zu verstehen, so der französische Philosoph Jean Baudrillard, solle man nicht die Bibliotheken, Denkmäler oder das Parlament besuchen, sondern einfach ins Kino gehen. Und es stimmt: Hat man die asoziale 20-Millionen-Dollar-Produktion „Atlas Shrugged“ gesehen, versteht man ein wenig besser, warum das Wort Freiheit in Amerika oft so einen schrillen Klang und leicht befremdlichen Subtext besitzt und für Außenstehende nicht mehr nach einem Ziel klingt, sondern nach der Bedrohung des Gemeinwesens. 
Die republikanische Partei inszeniert sich in der derzeitigen politischen Debatte wie eine verwegene Gruppe von Freiheitskämpfern, die eine tyrannische Regierung in der Hauptstadt stürzen will. Freiheitsberaubung lautet der Vorwurf, mit dem Abgeordnete und Strategen aus den Thinktanks gegen Krankenversicherung, Umweltbehörde und nationale Notenbank, gegen Bankregulierungsgesetze, Waffenscheine und Steuern im Allgemeinen auf die Barrikaden gehen. Dabei hat die rechtspopulistische Bewegung Tea Party gerade in der Arbeiterklasse und bei den Unterprivilegierten große Resonanz. „What’s wrong with Kansas“, fragte der Soziologe Robert Putnam schon 2004, was stimmt nicht mit Kansas, diesem Bundesstaat, dessen Bewohner in großer Zahl arm sind, aber vorwiegend eine unsoziale Partei der Reichen wählen. 
Was stimmt nicht mit Kansas und dem Rest von Amerika? Warum wählen gerade Arbeiter und die Landbevölkerung gegen ihre eigenen Interessen? Die Antwort ist, dass individuelle Freiheit in den USA längst den Status einer Religion und damit der Verblendung erreicht hat. Gleichheit und Brüderlichkeit hingegen sind nicht so wichtig. 
In Europa hat man Angst, weil das soziale Netz immer dünner wird. In den USA fürchtet man, sich in den Strängen aus Arbeitslosenversicherung und Familiengeld zu verwickeln und bewegungsunfähig zu sein. 
Für Jahrhunderte, heißt es in „Atlas Shrugged“, „wurde der Kampf um die moralische Hoheit zwischen denen ausgetragen, die behaupten, dass unser Leben Gott gehört, und denen, die sagen, dass es unseren Nachbarn gehört. Zwischen denen, die predigten, dass das gute Leben in der Aufopferung für Geister im Himmel besteht, und denen, die predigten, dass gutes Leben Selbstaufopferung für die Inkompetenten und Schwächlinge auf der Erde heißt. Nie kam jemand und sagte, dass unser Leben uns selbst gehört, und dass gutes Leben darin besteht, es zu leben.“ Gott und Gesellschaft, so Ayn Rand, liegen im gleichen Grab. Es lebe das Individuum. Man könnte auch ein bisschen deutlicher werden und sagen: Fuck you all!

„Atlas Shrugged“ ist ein beliebtes Buch an den amerikanischen Universitäten. Die Lektüre des als Roman getarnten Pamphlets gehört zu der akademischen Sozialisation der Studienanfänger, schreibt der Autor Andrew Corsello. Die Mischung aus hübsch formulierter Ideologiekritik und der Legitimation eines exzessiven Egoismus passt zu den adoleszenten Akademikern und einer Lebensphase, in der man ohnehin den Eindruck hat, die Welt existiere nur zur eigenen Bedürfnisbefriedigung. Die Sache ist nur, meint Corsello, dass die meisten Freshmen reifen, die Lebensphase und Ayn Rand überstehen und akzeptieren, dass sie nicht alleine auf der Welt sind. Dass der pubertäre Ultraliberalismus nun zum Dogma des Establishments der mächtigsten Nation der Welt geworden ist, ist keine gute Nachricht. Die Begrenzung der CO2-Emission ist eine Zumutung, genau wie das Verbot, ein Sturmgewehr auf den Kindergeburtstag mitzubringen oder die Klage gegen Hermann Cain, Präsidentschaftskandidat der Republikaner und Inhaber einer Pizza-Kette, der in seinem Unternehmen keine Muslime einstellt. 
Dass Amerikaner im Jahr 2011 der Meinung sind, das Hauptproblem der Nation sei mangelnde Freiheit und Überregulation, ist schon spektakulär: Die Explosion der Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko war schließlich ebenso wie der Kollaps der Bankenbranche und die folgende große Rezession ein Produkt eines fehlenden Brems- und Kontrollsystems. Und sind im „Land of the Free“, das unter einer historisch hohen Arbeitslosenquote und privater Verschuldung leidet, nicht viel zu viele Menschen absolut frei – also frei von festem Einkommen, Versicherungsschutz und festen Wohnsitz. Freier, als ihnen lieb ist?

Im Jahr 2010 veröffentlichte Jonathan Franzen den Roman „Freedom“ – und stand so scheinbar in einer langen Tradition der liberalen Lyrik von Benjamin Franklin über E. E. Cummings bis Jon Bon Jovi („Bells of Freedom“). „Freedom“ erzählt die Geschichte einer Familie, die den amerikanischen Traum aus Kleinfamilie, Einfamilienhaus und Doppelgarage lebt und trotzdem zutiefst unglücklich und schweigsam ist. Suburbia erscheint in vielen zeitgenössischen Filmen und Erzählungen wie „American Beauty“ oder „Revolutionary Road“ als Vorstadt-Fegefeuer und -Gefängnis, in der Monogamie, Monotonie und monochrome Dekoration (weiße Gartenzäune, pastellfarbene Polohemden) den Menschen die Luft abschnüren und zu Ausbruchsversuchen führen – wahlweise durch Drogenkonsum, Gewalt oder sexuelle Exzesse. Jonathan Franzen führt das Unglück nicht auf einen Mangel an Bewegungsfreiheit zurück, wie er im Gespräch sagt, sondern auf einen „Exzess der Freiheit“. 
Der Schriftsteller hat gerade eine Buch-Promotion-Tour durch Amerika hinter sich gebracht, und mit der Smartphone-Kamera viele Beweise für die These dokumentiert: „Das Autohaus ‚Freiheit‘, der ‚Liberty‘-Burger, Freiheit als Werbeslogan für Kreditkarten und Dekoration von Cornflakes-Packungen. 
Die Figuren in Franzens jüngstem Buch sind gut ausgebildet, wohlhabend, ihnen stehen alle Möglichkeiten offen. „Aber sie leiden an einem Übermaß an Freiheit“, sagt Franzen, „wenn jemand absolut frei ist, dann bedeutet das, dass er auch an nichts glaubt und sich für nichts engagiert. Ein Mensch mit einer Mission oder einem Ziel ist nicht frei.“ Freiheit erscheint nicht mehr als Rechtsanspruch, sondern als Fetisch, ein entleerter Begriff und leerer Zustand, den man zum persönlichen Lustgewinn einsetzt. 
Der Roman „Freiheit“ ist paradoxerweise ein Plädoyer für Grenzen und Stopp-Zeichen. Die Figuren leiden unter einer regelrechten Freiheitsvergiftung und müssen mühsam auf Entzug. 
Der hyperindividualistische Mensch sieht sich als Regisseur und Drehbuchautor des eigenen Lebens, er bestimmt das Setting, Production-Design und Besetzung und kann es nicht ertragen, wenn ihm eine externe Entität das Recht auf den „Final Cut“ verwehrt. 
Der Konsument hat sich an die Rolle des Königs gewöhnt und ist bereits irritiert, wenn Michelle Obama, die First Lady der USA, eine Initiative gegen Fast Food in Schulkantinen startet. „Die Politiker wollen unseren Kindern den Hamburger aus den Händen reißen“, schreien dann die Talkshow-Größen Glenn Beck oder Rush Limbaugh in die Mikrofone. 
In Deutschland und Europa wirken übrigens dieselben Reflexe in der Reaktion auf EU-Verordnungen, die sich angeblich mit Obstdesign beschäftigen, oder Biosprit und Energiesparlampen vorschreiben. Der Publizist Hendrik M. Broder schrieb kürzlich in der Schweizer „Weltwoche“, die sich liest, als würde sie Sarah Palin in Alaska zusammenzimmern, über die „deutsche Erziehungsdiktatur“, die den Menschen nicht mehr die Möglichkeit lasse, einen zerstörerischen Lebensstil zu führen oder sich selbst zugrunde zu richten. 

Hendrik Broder, Glenn Beck oder die ultraliberalen Aktivisten der amerikanischen Tea-Party-Bewegung sehnen sich offensichtlich nach dem deregulierten und genau deshalb recht aufregenden Naturzustand zurück, oder, wenigstens, nach dem Wilden Westen, wie man ihn aus Filmen kennt. „Sarah Palin, die Tea Party oder die Libertarier“, sagt Robert Pippin, Philosoph und Filmwissenschaftler an der Universität von Chicago, „wünscht sich eine Welt wie aus den Filmen von John Ford oder Howard Hawks, in der ein autonomer und starker Held wie John Wayne ‚sein Ding‘ macht.“ Der Western, erklärt Pippin, spielt in einem Territorium des Wandels. „Es geht um den Übergang zwischen der Gesetzlosigkeit, dem rücksichtslosen Selbstinteresse und dem angstvollen Naturzustand in einen Zustand der politischen und rechtsstaatlichen Ordnung.“ Die Eisenbahn, die Gerichte und die Schulen, die im Western auftauchen, beenden das Ende der totalen Freiheit, die aber meist nur dazu führte, dass ein paar Rinderbarone neofeudale Zustände errichteten. 
„Die Rechte in Amerika versteht den Western falsch“, meint Pippin –John Wayne habe nie dafür gekämpft, mit dem Pferd in den Sonnenuntergang reiten zu dürfen, sondern sich zum Beispiel in „The Man Who Shot Liberty Valance“ für das gute Leben, also Schulen, Bewässerungssysteme und Regulierung des Rindermarkts eingesetzt. Der Lone Rider kämpfte für die Gesellschaft. 
Die Thesen von Ayn Rand und die Sehnsucht nach absoluter Freiheit und Zwanglosigkeit, sind im 21. Jahrhundert, in dem sich die Welt das Motto „bigger, better, more“ nicht mehr leisten können wird, und Probleme wie Überbevölkerung, Ressourcenmangel oder Klimawandel nur durch Kooperation und Selbstbeschränkung lösbar scheinen, seltsam unzeitgemäß. Das haben die Kinozuschauer in Amerikaner besser verstanden als die republikanische Partei oder konservative Medien wie Fox News. „Atlas Shrugged“ spielte mit14 Millionen Dollar nicht mal seine Produktionskosten ein. Oder anders: Der Freiheitsporno war ein totaler Flop.

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