Nicht von schlechten Eltern

Wenn die Eltern im Untergrund sind, ist man als Kind freier als man je sein wollte: Die Geschichte vom Terroristensohn Grischa Speitel.

Von Oliver Geyer

Heute ist Grischa Speitel selbst Familienvater. Der Rasen im Garten seines Reihenhauses in der Nähe von Bielefeld ist korrekt gestutzt, und sein kleiner Sohn fährt mit einem Kindertretauto unentwegt im Kreis. Aber bitte so, dass es keine Kratzer an der weißen Hauswand gibt. Auf solche Dinge achtet Grischa schon aus beruflichen Gründen etwas genauer. Seit ein paar Jahren verdient er sein Geld im Bauträgergeschäft, zieht Doppelhaushälften hoch. An seine eigene Vergangenheit erinnern in dieser perfekten bürgerlichen Lebenswelt rein äußerlich nur noch Grischas dunkle Augen, die er von der Mutter geerbt hat und mit denen Angelika Speitel seinerzeit von Fahndungsplakaten in deutsche Amtsstuben blickte. 

Das war im Jahr 1977. Der Kampf der zweiten Generation der RAF, die Gefangenen von Stuttgart-Stammheim, Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe, freizupressen, lief auf seinen Höhepunkt im Deutschen Herbst zu. Mit dabei: Volker und Angelika Speitel, Grischas Eltern, die Freiheitskämpfer, die er so bald nicht mehr in Freiheit wiedersehen sollte. Umso freier war er damals selbst: Er wohnte weiterhin im Kreise der so genannten Fantasia-Gruppe in der Stuttgarter Schlosserstraße 28a, wo seine Eltern ihn zurückgelassen hatten – zusammen mit 25 Menschen, die Wichtigeres zu tun hatten, als sich groß um ihn zu kümmern. Nicht wenige zählten zur Unterstützerszene der RAF und planten die bewaffnete Revolution. Hier, wo das Wort „Untergrund“ immer etwas mystischer Nebel umwaberte, kam Grischa als Kind zweier gedienter Untergrundkämpfer in den Genuss gewisser Privilegien: Er durfte in das größte Zimmer der Kommune ziehen, sogar einen Hochsitz und eine Schaukel baute man ihm ein, und das Matratzenlager im Nachbarzimmer bekam er noch dazu. 

So war es nicht von Anfang an. In den frühen siebziger Jahren, nach Grischas Geburt, haben auch er und seine Eltern mal als ziemlich normale Kleinfamilie begonnen. Heute fällt es Grischa schwer, diese Zeit zu rekonstruieren. Denn die Gedächtnisstützen, mit denen Menschen fehlende eigene Erinnerungen an die ersten Lebensjahre gewöhnlich ersetzen, stehen ihm größtenteils nicht zur Verfügung: Das Stadtguerilla-Konzept der RAF verlangte von den Terroristen, dass sie vor dem Abtauchen alle Bilder von sich selbst vernichteten – und nur wenige Fotos haben den privaten Bildersturm der Familie Speitel überlebt. 
Sich in all den Jahren gemeinsam mit seinen Eltern an früher zu erinnern – auch das war kaum möglich. Sein Vater lebt bis heute in einer Art Untergrund, denn nach seinem Ausstieg aus der RAF wurde er zum wichtigsten Kronzeugen und nahm immer neue Identitäten an. 
Und wenn Grischa mal seiner Mutter im Gefängnis gegenübersaß, durften sie nur über ganz normale Familienthemen sprechen. Wie geht es Oma? Was macht die Schule? Du hast aber einen schönen roten Pullover an. Bei dem leisesten Verstoß war der Besuch beendet, oder Angelika Speitel wurde von den mithörenden Beamten bedrängt, endlich auszupacken. Und so war Grischa lange Zeit drauf angewiesen, die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend anhand von Orientierungsmarken wie Fahndungsplakaten, Verhaftungen und Beerdigungen rekonstruieren, per Rasterfahndung in der eigenen Biografie. 

Er musste erst graue Strähnchen in seinen schwarzen Haaren bekommen, bis Angela, wie er seine Mutter immer nur nannte, gelegentlich wieder über früher sprach. Sie erinnerten sich an die erste WG in einer Villa oben am Berg im beschaulichen Stuttgart Birkendörfle, in die die Speitels gemeinsam mit Freunden zogen – darunter auch die Familie von Willy Peter Stoll, der später bei einem Festnahmeversuch von der Polizei erschossen wurde.

Volker Speitel hatte sein Studium an der Kunsthochschule abgebrochen, seine Frau Angelika engagierte sich für hungernde Kinder in Bombay und den Aufbau eines neuen antiautoritären Kindergartens, den auch Grischa besuchen sollte. Auch an die häufigen Tränen seiner Mutter erinnerten sie sich. Den Gedanken an die Ungerechtigkeit der Welt habe seine Mutter nicht ertragen, sagt Grischa.  
Darüber, wie der Terror schließlich in die Villa und damit in die Familie kam, hat Grischas Vater nie mit ihm geredet. Dafür sprach er ausführlich im „Spiegel“ darüber. Nach Volker Speitels Ausstieg veröffentlichte das Magazin eine dreiteilige Serie, in der der Ex-Terrorist die zweite Generation der RAF als eine Gruppe Orientierungsloser darstellte, die im Kern völlig planlos waren und sich dadurch umso wahnhafter von den Stammheimer Inhaftierten radikalisieren ließen. Die WG Birkendörfle, schrieb Speitel, sei zu Beginn völlig unpolitisch gewesen, man habe dort null Plan von Theorie gehabt und allenfalls einer von Drogen verklebten philosophischen Mystik angehangen, in die man alles reinpappen konnte, die aber zu nichts verpflichtete. Speitel zufolge war es denn auch mehr aus Sensationsgeilheit heraus, dass die Birkendörfler die ersten Anschläge von Baader, Ensslin und Meinhof so fasziniert verfolgten. Mit dem Joint in der Hand von der Matratze aus in der Glotze. 

Als sie die Gelegenheit bekamen, sich für die in Stammheim einsitzende erste RAF-Garde zu engagieren, schritten die Speitels zur Tat. Im Rahmen der Gefangenenhilfe, die in der Kanzlei des RAF-Anwalts Klaus Croissant organisiert wurde, packten Angelika und Volker Speitel Päckchen, tippten die Anwaltspost, sammelten Spenden, organisierten die Kommunikation der Gefangenen untereinander – und sprangen so in den Mahlstrom der Zeitgeschichte. An einen Ibiza-Urlaub, den die Speitels in dieser Zeit zusammen mit anderen Birkendörflern unternahmen, erinnert sich Grischa deshalb wie an eine verpasste Chance zum Aussteigen. Damals habe es den Plan gegeben, eine Kommune unter Palmen zu gründen. Mit von der Partie waren Willy Peter Stoll, seine Frau Biggi und Tochter Susanne. Doch aus dem Aussteigertraum wurde nichts, es gab Streit, und das Geld reichte auch nicht. Statt sich ins Paradies zu flüchten, packten die Speitels und die Stolls die Koffer und flogen zurück in den Kampf. 
Danach bekam Grischa seinen Vater kaum noch zu Gesicht. Familie und feste Bindungen hatten Volker Speitel, dem ehemaligen Heimkind, ohnehin nie gelegen. Einem wie ihm, der am liebsten immer ‚on the road‘ war, kamen diese Zeiten, in denen alles in Bewegung geriet, nur gelegen. Nicht nur die Idee vom bewaffneten Kampf, auch die der freien Liebe nahm er zunehmend ernst und verlagerte seinen Lebensmittelpunkt mit steigender Flexibilität jeweils dorthin, wo eine gut aussehende Kommunardin seinem Charisma erlag. Einige landeten später, wie Elisabeth van Dyck, ebenfalls auf den Fahndungsplakaten. 

In der Schlosserstraßen-Kommune, in die Grischa inzwischen mit seinen Eltern und den Stolls umgezogen war, tauchte Volker Speitel bald nur noch sporadisch auf, und dann auch nur, um den Fantasia-Leuten mit seinen neuen Cordanzügen und Kontakten zur RAF zu imponieren, die beide immer enger wurden. Im Büro von Klaus Croissant organisierte Volker Speitel inzwischen hauptamtlich die Kampagnen für die RAF-Genossen und wurde Kurier zwischen den Stammheimer Häftlingen und ihren Komplizen in der Illegalität. Und Anfang 1977 sagte schließlich irgendjemand in der Schlosserstraße zu Grischa: „Dein Vater ist jetzt im Untergrund.“ 

Zunächst dachte Grischa bei dem Wort Untergrund an die Druckerei „Fantasia“, die sich im Keller des dreistöckigen Bürgerhauses befand. Doch dort wurden nur ganz legal Plakate für K-Gruppen und erste Exemplare des „Atomkraft nein danke“-Aufklebers gedruckt. 
In den oberen Stockwerken ging es derweil auch ohne seinen Vater familiär zu. Der wenig später ebenfalls per Rasterfahndung gesuchte Willy Peter Stoll war für Grischa nur „der Willy“ – ein netter Onkel, der besonders fantasievolle Gutenachtgeschichten erzählte. Und seine Mutter gab es ja auch noch. 
Eines Nachts wurde Grischa davon wach, dass sie mitten in einer Diskussion laut losheulte. Das an sich konnte ihn nicht erschüttern, seine Mutter weinte fast immer, wenn sich die Kommunarden am WG-Tisch die Köpfe heiß redeten. Wer nicht viel weint, der hat eine kranke Seele, hatte sie ihm erklärt. Schließlich war es Teil des Konzepts der gesellschaftlichen Befreiung, Gefühlen freien Lauf zu lassen. Paradoxerweise gehörte auch der Gruppenzwang dazu. Oft konnte Grischa hören, wenn in der Küche auf Angela und Willy Stoll eingeredet wurde. Eines Tages kam seine Mutter zu ihm ans Bett und sagte: „Ich muss für ein paar Tage weg.“ Deutlicher wurde ein Mitbewohner am Tag darauf: „Deine Mutter wird so bald nicht wiederkommen, die muss in den Untergrund.“ 

Grischa dämmerte schon damals, dass der Untergrund die oberste Etage war, die man in der Hierarchie der Szene erklimmen konnte. Eher als an Trauer über das Verschwinden seiner Mutter erinnert er sich heute an Gefühle von Stolz. In der Schlosserstraße hatte man ihn seinen neuen Status als Kind zweier prominenter Untergrundkämpfer mit dem größten Zimmer der Kommune ja auch spüren lassen. Im Rückblick sieht er aber auch Anzeichen, dass ihm das Leben im Mittelpunkt des deutschen Terrors durchaus zugesetzt haben muss. Seine Rechtschreibschwäche führt Grischa darauf zurück, dass er die Schule ausgerechnet in der ersten Klasse nur sporadisch besuchte. Nachdem die Speitels und Willy Peter Stoll auf den Fahndungsplakaten aufgetaucht waren, wurde schon der Schulweg für Grischa und seine Quasi-Schwester Susanne vollends zum Spießrutenlauf. Überall lauerten ihnen die Reporter auf. Einige Eltern der Mitschüler verboten ihren Kindern den Umgang mit dem Terroristennachwuchs. 

Die allgemeine Erregung steigerte sich im Jahr 1977 mit jedem Anschlag: Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet. Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto ermordet. Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer entführt, die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt, vier der fünf Gefangenen von Stammheim tot. Grischa machte es sich zur Gewohnheit, jeden Morgen beim Verlassen des Hauses den beiden Polizisten in Zivil zuzuwinken, die zur Überwachung der Fantasia-Gruppe in die Schlosserstraße abkommandiert waren. Eines Morgens um fünf Uhr kam schließlich eine ganze Mannschaft in sein Zimmer gestürmt, teils in Uniform, teils in Zivil, alle mit Pistolen in den Händen: „Los, raus hier!“ Die Kinderzimmer wurden bei den Razzien in der Schlosserstraße besonders ins Visier genommen. Grischa lag zusammengekauert inmitten seiner Stofftiere auf dem Hochbett und beobachtete, wie die Polizisten seine Spielzeuggewehre beschlagnahmten. Klar hatte er Angst, aber hinterher war er auch wieder stolz, so mitten drin gewesen zu sein im großen Geschehen. 
Ein Pressefoto von der Beerdigung von Ensslin, Baader und Raspe auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof zeigt Grischa, wie er neben den Särgen herläuft. Hunderte Sympathisanten drängten sich, trugen Transparente, weinten oder skandierten das Wort „Mörder“. Am Himmel kreisten Hubschrauber, und auch auf dem Friedhofsgelände hatte sich ein Großaufgebot von Polizei postiert. Pfarrer Ensslin sprach am Grab seiner Tochter und reichte das Megafon weiter. Der Oberton der Nachrufe wechselte von traurig zu aggressiv. Einer der Kommunarden nahm Susanne und Grischa an die Hand, um so schnell wie möglich wegzukommen. Im Strom der Menge liefen sie eine abschüssige Straße hinunter, die durch den Wald führte, als plötzlich ein aufrechter Bürger in seinem Mercedes in den Zug der Menschen hineinfuhr. Die Leute sprangen zur Seite, einige rissen die Türen des Wagens auf und versuchten, den Fahrer herauszuzerren. Die berittene Polizei prügelte auf die Menschen ein. Der Fantasia-Kommunarde stieß die Kinder in den VW-Käfer. Ein am ganzen Kopf blutender Mann sprang noch im letzten Moment auf den Beifahrersitz, dann fuhren sie davon.

Grischas Verbleib in der Sympathisantenszene widmete der „Spiegel“ im Januar 1978 eine große Geschichte. Das Kind des Terroristenpaares war zum Politikum geworden. „Muss da raus ¬– Der achtjährige Grischa, Sohn der RAF-Gefolgsleute Angelika und Volker Speitel, geriet ins Malwerk der Terroristenfahndung“, stand über dem Artikel. Herbert und Barbara Schlage, die Betreiber der Druckerei Fantasia im Keller der Kommune, hatten extra geheiratet, um etwas seriöser zu wirken und so vom Jugendamt als Grischas Pflegeeltern anerkannt zu werden. Das war gelungen. Doch anders als sonst, wenn Kindern die Eltern zeitweise abhanden kommen, hatte in Grischas Fall neben dem Jugendamt und dem Vormundschaftsgericht noch das Bundeskriminalamt ein gewichtiges Wort mitzureden. Das BKA trieb die Sorge um, dass Terrorist werden muss, wer im Terrormilieu groß wird. Und so bauten die Geheimdienstler massiven Druck auf. Die Fantasia-Gruppe reagierte mit einem Maximum an Öffentlichkeit. Dank einer Presseerklärung und einer groß angelegten Unterschriftenaktion konnte Grischa schließlich bleiben. 

Dabei entwickelte sich der Terroristensohn allenfalls zum militanten Reinlichkeitsfanatiker. Statt zum Maschinengewehr griff Grischa zum Staubsauger. Es entwickelte sich nachgerade zum Tick, dass er die ständig verrutschten Teppichfliesen in seinem Zimmer wieder und wieder gerade rückte. Besonders nach Polizeirazzien sah es furchtbar aus. Grischa ist sich sicher, dass der Grund für seine bis heute fortwirkende Sehnsucht nach Ordnung in der stets verdreckten Kommune liegt. Er, der rumlaufen konnte wie und wohin er wollte, sehnte sich nach den Regeln und Bügelfaltenhosen der Klassenkameraden. Am WG-Tisch, wo Stoffhosen als Symbol für die Konformitätszwänge der Gesellschaft verfemt waren, hatte er gelernt, zurückzuschießen: „Ihr habt doch auch alle Clogs, Jeans und Tücher an, ist das etwa keine Uniform?“ Das Leben der anderen, der Spießer, wurde zu seinem Objekt der Begierde, und besonders deren Pausenbrote. Weil man in Grischas Mund alles einwerfen konnte, nannten sie ihn auf dem Schulhof nur noch „Mülleimer“. Im Kühlschrank der WG war oft nur gähnende Leere.

Anfang Oktober 1977 sah Grischa seinen Vater schließlich wieder – in der Zeitung. Volker Speitel war der Polizei im Skandinavien-Express in Puttgarden ins Netz gegangen – und zeigte sich gegenüber den Beamten kooperativ. Als ihm die Behörden die Kronzeugenregelung und ein neues Leben mit neuer Identität im Ausland in Aussicht stellten, wurde er schwach. Er gab zu, als Kurier zwischen den Stammheimer Inhaftierten und den Illegalen fungiert zu haben und dass er es war, der den Schmuggel der Waffen organisiert hatte, mit denen Baader, Ensslin und Raspe ihrem Leben in der Gefangenschaft ein Ende machten. 

Im September 1978 trug Grischa den großen Gutenachtgeschichtenerzähler Willy mit zu Grabe: aufgebahrt in seiner Jeans, die von den Kugeln der Polizeirevolver durchlöchert war. Gäste eines Chinarestaurants in Düsseldorf hatten Willy Peter Stoll von einem Fahndungsplakat wiedererkannt und die Polizei verständigt. Als sie eintraf und ihn stellen wollte, hatte er den Fehler gemacht, in die Innentasche seiner Jacke zu greifen, um seinen gefälschten Personalausweis herauszuziehen. Die Polizei erschoss ihn. Im Keller der Fantasia liefen danach Plakate aus der Maschine: „Wenn ihr morgen zu meinem Tod kommt, kommt nicht, um zu weinen, sondern um euch neue Kraft für den Kampf zu holen.“ 
Damals wurde Grischa klar, wie gefährdet auch seine Mutter war. Keine drei Wochen nach Stolls Tod erschien eine Schlagzeile: „Terroristin nach Schießerei verhaftet“. Einen Tag zuvor hatte es in einem Wäldchen im Dortmunder Süden eine Schießerei zwischen Terroristen und Polizisten gegeben: ein Polizist tot, einer verletzt, die weibliche Terroristin in den Oberschenkel getroffen, ein Terrorist mit Unterleibsschuss verhaftet, einer geflohen. Die RAF-Leute waren bei einer Schießübung überrascht worden. Tagelang bangte Grischa, ob die eisern schweigende Frau, die in der Dortmunder Klinik Bergmannsheil lag, seine Mutter war. 
Gewissheit brachte ausgerechnet sein Vater. Volker Speitel hatte inzwischen nicht nur gegen seine alten Kampfgefährten ausgesagt, er hatte sich auch bereit erklärt, die angeschossene Frau in Dortmund zu identifizieren. Mit dem Hubschrauber flogen sie ihn direkt aus Stammheim aufs Dach des Krankenhauses, von wo es unter strengster Bewachung in die Intensivstation ging. Volker Speitel erkannte die Frau erst nicht. Sie schlief und ihr Gesicht war dicker als das der Angela, die er kannte. Dann wachte sie auf und überzog ihn mit Schimpftiraden: „Du Schwein!“ 

Wenn es drauf ankommt, sind die vermeintlich Schwächeren die Starken und umgekehrt. Diese Überzeugung, die sich bei Grischa in jenen Tagen Ende der siebziger Jahre entwickelte, ist mit den Jahren immer fester geworden, sagt er. Seinen Vater machte bereits die Aussicht auf 38 Monate im Gefängnis mürbe. Mutter Angela dagegen blieb eisern, sagte nie wieder ein Wort und bekam wegen vollendeten und versuchten Polizistenmordes zweimal lebenslang. In der Erklärung, die Volker Speitel in der dreiteiligen Serie im „Spiegel“ 1980 abgab, klang das freilich anders: „Im Knast, ohne die ‚Geborgenheit der Gruppe‘ und mit diesen Ereignissen vor Augen (Red: Mogadischu etc.) bin ich ‚ausgeklinkt‘ und habe den Untergang der Welt und den Untergang aller Werte gesehen. So blöde sich das auch anhört, so umreißt es doch ungefähr den Gefühlszustand, in dem ich war und aus dem die Entscheidung kam, zu sagen: ‚Jetzt ist mir alles egal, nur noch raus aus diesem Scheißhaufen, und zwar sofort, sonst machst du es nie.‘“ 

Grischa würde bis heute schwören, dass seine Mutter im Sinne der Anklage unschuldig ist. Mehr noch: Er hält sie von ihrem Charakter her für schlichtweg unfähig zur Gewalt. Sie war so eine, die die anderen höchstens zum Einkaufen geschickt haben können, sagt er. Letztendlich habe Angela mit dem Sprung in den Untergrund nur seinem Vater und den anderen imponieren wollen. Allen zeigen, dass sie nicht mehr das brave schwäbische Mädchen war. Leichter denn als Gewalttäterin konnte Grischa sich die Mutter als Häftling vorzustellen. Knast war für einen Schlosserstraßenbewohner nichts vollkommen Abseitiges. Ins „Institut“ zu wandern gehörte dazu, und aus den Knastbesuchen bei Kampfgefährten wie Christoph Wackernagel machte die Kommune Ausflüge, zu denen regelmäßig auch Kommunenkind Grischa mitfuhr. Ein Stück Alltag. 
Als Grischa seine Mutter ein Jahr nach ihrer Verhaftung das erste Mal im „Klingelpütz“ in Köln-Ossendorf besuchen durfte, war es indessen anders, gespenstischer. Grischa musste sich nackt ausziehen und seine Schuhe durchleuchten lassen. Das BKA hegte den Verdacht, dass Kinder und besonders dieser Junge mit den harmlosen dunklen Dackelaugen von der Szene als Übermittler von Waffen und Botschaften eingesetzt werden könnten. 
Nach der Leibesvisite führten sie ihn eine Dreiviertelstunde im Gefängnis herum, damit er sich den Weg nicht merken konnte, der zum Hochsicherheitstrakt führte. Dann öffnete sich eine Tür: Grischa sah ein Milchglas und dahinter unscharf eine kleine Person, die wie wild mit den Fäusten auf das Milchglas einschlug. Der Besuch wurde sofort abgebrochen. Grischa hatte seine Mutter nur als Schatten wiedergesehen. 
Bei der zweiten Begegnung redeten die BKA-Beamten auf den Neunjährigen ein: „Sprich doch mal mit deiner Mutter. Sie kann ihre Lage wesentlich verbessern, wenn sie über die RAF aussagt.“ Grischa sagte nichts. Die Mitbewohner hatten ihm auch vor dieser Fahrt nach Köln wieder ins Stammbuch geschrieben, dass man mit Bullen nicht redet. Wieder ging es treppauf und treppab. Eine Zellentür wurde geöffnet, und Mutter Angela saß da, blass, schwarz unter den Augen und nur noch Haut und Knochen. Er durfte sie nur kurz umarmen, spürte, dass sie federleicht war, dann wurden sie sofort wieder getrennt. „Das reicht!“, bellte einer der Bewacher. Sogar bei Berührungen der Füße unter dem Tisch wurde sofort eingeschritten. Grischa und Angela wussten erst nicht, worüber sie reden sollten, dann platzte es aus Grischa heraus: „Hast du wirklich jemanden umgebracht?“ Prompt schaltete sich der BKA-Mann ein: „Nun erzählen Sie doch mal, was Ihr Sohn hier wissen will.“ 
Erst viel später erfuhr Grischa, unter welchen Bedingungen Angela in die ersten Jahren hier eingesessen hatte: isoliert in einem Trakt mit 50 Zellen, die Tür stets weit geöffnet und mit zwei Wachen davor; regelmäßig nachts wurde sie in eine andere Zelle umverlegt, wobei sämtliche Sachen durchwühlt wurden; die Neonröhren an der Decke waren oft die ganze Nacht eingeschaltet. Irgendwann zertrümmerte sie die Neonröhren mit einem Stuhl. 
Einmal empfingen ihn die BKA-Leute mit den Worten: „Deine Mutter will dich heute nicht sehen.“ Grischa wollte es nicht glauben und spielte verrückt. Im Polizeigriff führten sie ihn zum Ausgang. Dabei stimmte, was die Beamten sagten: Angelika Speitel hatte Grischa nicht sehen wollen. Manchmal ertrug sie diese Begegnungen schlichtweg nicht mehr. 

Grischa selbst stand nach diesen Knastbesuchen tagelang neben sich, war in der Schule abwesend oder zumindest wie abwesend. Als völlig überzogen empfand er die ganze Reaktion des Staates auf die RAF-Terroristen. Und wie bei so vielen Menschen machte ihn diese Reaktion nur radikaler: Nachdem er in der Realschule mit viel Verve ein Referat über die Ungerechtigkeit der Mischfinanzierungskredite in der dritten Welt gehalten hatte, erkundigte er sich bei den Kommunarden schon nach einer Guerillero-Ausbildung an der Waffe in Kuba. Nichts hätten sie ihm lieber ermöglicht, doch wie sich herausstellte war Grischa dafür noch zu jung. Als er zwei Jahre später alt genug gewesen wäre, war der Furor verflogen. Wie überhaupt schnell verfliegender Eifer zur Konstante in Grischa Leben wurde. Was regelmäßig fehlte, war Regelmäßigkeit.

Ablenkung gab es in der Schlosserstraße ja auch zu Genüge. Für einen Frühreifen wie Grischa war die Fantasia-Gruppe das Fantasia-Land: In der großen Küche stiegen ständig Partys, und ein rauchender 11-Jähriger ging für die Kommunarden völlig okay. Irgendwann akzeptierten sie sogar seine kapitalistischen Marlboros – Grischa war antiautoritär erzogen, den Geschmack von Freiheit ließ er sich ohnehin nicht mehr verbieten. Nachdem die noch verhältnismäßig gewissenhaften Pflegeeltern Babs und Bert Schlage wegen wiederholter Sprühaktionen an Autobahnbrücken selbst ins Institut mussten, standen für Grischa und seine Pubertät alle Türen offen. Türen gab es in der Schlosserstraße sowieso nicht, sie waren, wo alles Private als politisch galt, verpönt. Und so bekam Grischa immer häufiger Besuch von Klassenkameraden. Es wurde die neue Nachmittagsbeschäftigung, die Erwachsenen beim Sex zu beobachten und auch mal am Joint ziehen zu dürfen. Grischa mochte es, wenn seine naiven Schulkollegen beim ersten Besuch immer ganz arglos fragten, warum die Frau in dem Zimmer da denn so laut schreit. In die Schule zog es Grischa eine Zeitlang kaum noch. Seine neuen Pflegeeltern gaben ihm einen Schreibblock mit Blankounterschriften, damit er sich die Entschuldigungen für die Schule selbst ausstellen konnte. Aber wenn es drauf ankam, standen ihm die Kommunarden auch zur Seite. Als seine Versetzung mal wegen fehlender Arbeiten für den Kunstunterricht gefährdet war, versammelte sich die halbe Kommune am Küchentisch und malte die fehlenden Bilder. Dass er nie sitzengeblieben ist und den Realschulabschluss geschafft hat, wundert Grischa trotzdem noch heute.

Beim Bundeskriminalamt beobachteten sie das Leben des Terroristenkindes weiter mit Sorge. Das BKA zitierte ihn zu einem Treffen auf einer Autobahnraststätte, um ihm ein Angebot zu unterbreiten. Das lautete so: „Wir organisieren dir eine Ausbildung deiner Wahl und finanzieren dich während deiner gesamten Ausbildungszeit. Die Bedingung: Du musst dich bereit erklären, den Kontakt zu seiner Mutter und zu der Sympathisantenszene der RAF für immer abzubrechen.“ Dazu war Grischa nicht bereit. 

Einige Monate später kam wieder ein Brief. Diesmal überbrachte man ihm die Nachricht, dass sein Vater mit ihm sprechen möchte. Das BKA hatte Volker Speitels umfassendes Geständnis, seine Insiderinformationen über die Binnenstruktur der RAF und die Identifizierung seiner Frau mit einem generalstabsmäßigen Neustart im Ausland honoriert. Für den Staat war er der wichtigste Kronzeuge, in den Augen seiner Ex-Genossen der gefährlichste Verräter. In der Szene kam seine Kritik an der RAF einem Sakrileg gleich. Das sagte sich einer nicht nur los, um mit den Bullen zu kooperieren, da stellte einer die Lebensidee vieler in Frage. Volker Speitel musste ständig mit einem Racheakt rechnen. 
Ausgestattet mit neuen Ausweispapieren, einem neuen Namen und einer komplett neuen Biografie wurde Grischas Vater nach Sao Paolo in Brasilien begleitet und bei dem Aufbau einer beruflichen Existenz unterstützt. Der zuvor immer leicht verwegene, unrasierte Untergrundkämpfer trug fortan den etwas glatten Namen „Thomas Keller“ und arbeitete in einer Werbeagentur, die unter anderem Volkswagen Südamerika mit Werbekampagnen betreute. Der ehemalige Kommunikationsbeauftragte der RAF mit dem abgebrochenen Kunsthochschulstudium erwies er sich bald als Marketingtalent und sammelte ein paar Jahre lang berufliche Meriten. Nachdem sich Volker Speitel in der Identität Thomas Keller eingelebt hatte und sicher fühlte, bekam er von den Geheimdienstleuten den Passierschein, mit seiner neuen Frau nach Deutschland zurückzukehren. Im westfälischen Wiedenbrück setzte er zum nächsten Karrieresprung an und vermarktete die Produkte eines bekannten Wohnmobil-Ausstatters. Alles lief glatt. So glatt, dass das BKA ein bisschen die Zügel lockerte und Thomas Keller gestattete, eine Nachricht an seinen Sohn abzusetzen. Als Grischa unter der vereinbarten Telefonnummer anrief, erkannte er die Stimme seines Vaters sofort wieder, und er hörte dessen schlechtes Gewissen heraus. Der Mann, von dem er jetzt gar nicht mehr wusste, wie er ihn ansprechen sollte, machte das erste Mal im Leben Anstalten, sich wie ein richtiger Vater zu verhalten. Er bot an, Grischa einen Praktikumsplatz bei einer Werbeagentur zu vermitteln. Wohnen könne er bei ihm und seiner neuen Frau, in ihrem Reihenhaus in Gütersloh. Grischa nahm das Angebot ohne zu zögern an. Der Traum von einem normalen, geordneten Leben war greifbar. 

Als Grischa mit dem Zug im Ostwestfälischen eintraf, war sein Vater schon wieder verschwunden. Ein Reporter des Magazins „Quick“ hatte Volker Speitel bei einer Presskonferenz erkannt und setzte ihn unter Druck, ihm ein Interview zu geben, ansonsten werde in der nächsten Ausgabe seine neue Identität offenlegen. Die „Quick“ erschien: Speitel war mehr schlecht als recht unkenntlich gemacht. Ein Journalist der Zeitschrift „Konkret“, in der Ulrike Meinhof über 20 Jahre zuvor als Kolumnistin begonnen hatte, erkannte ihn und ließ ihn mit Pauken und Trompeten auffliegen. Thomas Keller alias Volker Speitel konnte unter keinen Umständen in diesem Job und an diesem Ort bleiben. Das Leben auf der Flucht ging weiter: unter BKA-Begleitung zum nächsten Neuanfang. Aber auch für Grischa war der Weg zu einem eigenen Leben noch weit. 

Die Haftbedingungen von Angelika Speitel wurden Schritt für Schritt gelockert. Im Jahre 1990 wurde sie nach zwölf Jahren Haft von Richard von Weizsäcker gegen große politische Widerstände begnadigt: Sie war 36 Jahre alt, hatte im Gefängnis eine Schneiderlehre gemacht und arbeitete nach ihrer Entlassung viele Jahre in der Schneiderei des Kölner Stadttheaters. 

Grischa Speitel packte die neue Arbeit mit großem Eifer an, und ließ die Karrierechance Monate später wieder fahren. Er ist in den darauffolgenden Jahren noch 15 Mal umgezogen und hat in 12 verschiedenen Berufen gearbeitet. Nun plant er ein Buch über sein Leben. 

Volker Speitel lebt mit neuer Identität an einem unbekannten Ort.

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