Na, Du Flasche

Die neue Modedroge Tilidin soll die Angst vertreiben. Ein Selbstversuch

Von Fabian Dietrich

Mein Tag ohne Angst begann mit leichtem Schwindel und Risotto am Küchentisch einer Freundin im vierten Stock eines Hinterhofs in Berlin. Die Stadt war in dieses knochenfarbene Licht getaucht, es regnete und war recht kalt. Es war ein Mittwochmittag, so um den Schulschluss rum. Ein ziemlich sinnloser Tag. Ich hielt den Zeitpunkt für ideal. Wann wenn nicht jetzt tanken gelangweilte Straßenkämpfer ein bisschen Mut? Vor mir stand ein braunes Fläschchen aus der Apotheke, zwanzig Milliliter, auf dem Etikett war der Umriss eines Gehirns zu sehen. Tilidin. Der Beipackzettel war natürlich ellenlang. Rezeptpflichtig. Nicht an Drogensüchtige abgeben. Auf keinen Fall in die Venen spritzen. Nebenwirkungen. Und so weiter und so fort. 

Glaubt man dem, was so geschrieben wird, hat dieser Stoff das Potenzial, jeden in einen furchtlosen Psychopathen zu verwandeln. Der Amokläufer von Erfurt soll es im Blut gehabt haben. Ein Junge, der bei der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs wahllos auf Menschen einstach, hatte es genommen. Eine Bande, die vor Kurzem ein Pokerturnier überfiel, putschte sich damit auf. Des Weiteren sind überliefert: Machetenangriffe auf Spielhöllen, Karambolagen, Prügeleien. Es wird berichtet, dass die Droge vor allem bei arabischen Jugendlichen äußerst beliebt sein soll. Tilidin ist ein synthetisches Opioid, das zur Behandlung von Krebspatienten verschrieben wird. Es betäubt, macht stark und angstfrei. So sagt man jedenfalls. Ich nahm erst mal 32 Tropfen aus dem Fläschchen, eine mittelhohe Dosis. Sie zerplatzten im Wasserglas, zerstäubten zu wächsernen Blumen und lösten sich auf. 

Das Erste, was ich merkte, war eine nebulöse Leichtigkeit. Eine Art kribbliges Dröhnen hinter der Stirn. Mir fiel ein Auge zu, und dann das andere. Außerdem aß ich enorm heißes Risotto und verbrannte mir nicht den Mund. Ich verließ die Wohnung, ging raus auf die Straße und machte die Musik an. Ich hatte mir zur akustischen Untermalung dieses Tages ein paar Alben von Blokkmonsta auf Hirntot Records besorgt. Es war das Fieseste und Aggressivste, was sich auftreiben ließ, eine ziemlich düstere Sache. Im ersten Lied ging es darum, wie Blokkmonsta und sein Partner einen anderen Rapper foltern und ihm dann die Kehle durchschneiden. Im zweiten Lied wurde der Potsdamer Platz angezündet. Im dritten Lied entsorgten sie irgendwelche Leichen in einem Massengrab. Auch wenn sich kaum etwas reimte, fand ich die Musik – irgendwie war es ja schon bemerkenswert konsequenter Dilettanten-Brutaloquatsch – eigentlich gar nicht so übel, ich begann mit dem Kopf zu nicken, ich zog mir die Kapuze über, ich dachte mir: Massaker! und schlürfte freudig durch den Regen in Richtung Kottbusser Tor. In der Bank hob ich dann 200 Euro ab. Mir fiel auf: Die hatten zwei Überwachungskameras im Innenraum, links und rechts an den Säulen. Ich zählte die Menschen in der Schlange vor mir. Ich schätzte ihre Kampfkraft ein. Der Gedanke Geiseln zu nehmen. Na ja! 

An der Ecke Skalitzer- und Adalbertstraße sah ich ein Mädchen vor einem Fotoautomaten stehen und sprach es nicht an. Vielleicht war sie hübsch. Vielleicht aber auch nicht. Ich konnte nicht sagen, wie ich sie fand. Sie war so dinglich irgendwie. Sie wirkte wie ein Bauzaun, eine Ampel, ein Laternenpfahl. Die Gedanken engten sich nun zunehmend ein. Soll heißen: Ich dachte phänomenalerweise an gar nichts mehr. Nicht an gestern und nicht an morgen. Nicht an den Text, den ich schreiben sollte, nicht an die Mutproben, die ich mir eigentlich in wochenlanger Beratung mit meinen Redaktionskollegen vorgenommen hatte, um meine toxisch gewonnene Angstfreiheit unter Beweis zu stellen: Dinge, vor denen ich so richtig Schiss habe – vor vielen Menschen Karaoke singen, mich unangekündigt in das Vereinsheim der Hells Angels schleichen, mich ganz weit über die Brüstung eines Turms lehnen und danach, nur um zu quatschen, von einem Bordell ins nächste ziehen. Vor allem: der ganze intime Kram. Irgendwem einmal die Wahrheit sagen. Sich offenbaren. Probleme lösen und so. 
Tut mir leid, aber das alles war mir auf einmal so was von egal. Ich versank in einem weichen Nebel, in dem es gar keine Gefühle mehr zu geben schien. Tilidin machte mich nicht zu Rambo oder Braveheart. Es machte mich zu Jack Nicholson in „Einer flog übers Kuckucksnest“. Man hatte mich lobotomiert. Ich dachte: Bordstein, Regen, Spielkasino, Fahrradladen, Haus. Ich dachte: Mann, Frau, Regen, Kind. Ich starrte minutenlang auf das Rinderhackfleisch im Schaufenster einer türkischen Metzgerei. Ich bemerkte, dass das Blut auf die Fliesen rann. 

Irgendwann fand ich mich in der fürchterlichsten öffentlichen Toilette Kreuzbergs wieder (fürchterlich deswegen, weil hier immer sterbende Drogensüchtige liegen). Die Toilette hatte Lautsprecher und es lief so etwas wie Kruder und Dorfmeister (was es nicht besser machte). Ein Schild sagte: 20 Minuten, dann geht die Türe wieder auf. Ich dachte: Okay, jetzt aber richtig, und legte noch mal nach. Dreizehn Mal tröpfelte ich aus der braunen Flasche in meine Quittenlimo rein, dann sah ich mich im Spiegel an: kreideblass, komische Falten und Sprünge im Gesicht, winzigste Pupillen – der unsympathische Statist aus dem Zombiefilm. Dass die Leute das nehmen, weil man es niemandem ansehen kann, stimmte also schon mal nicht. 

Als ich die Toilette verließ, schlich sich ein letzter, einigermaßen klarer Gedanke in mein partiell gelähmtes Gehirn: Wie kann man ein Verbrechen in einem Zustand begehen, in dem ein so banaler Vorgang wie die Überquerung einer Seitenstraße nur mit absoluter Mühe gelingt? Wie kann man strategisch denken, wenn man überhaupt nicht mehr denken kann? Wie kann man sich bitteschön prügeln, wenn man sich immerzu in einer Art Zeitlupentempo bewegt? Auf der Suche nach anderen Streetfightern zog ich weiter in Richtung Süden, in die Tilidinhochburg Neukölln. 

Dort wartete ich, im Regen, auf der Parkbank, auf einem Spielplatz in der Nähe der Rütli-Schule auf irgendwas. Allein. Gegenüber auf der Bank saß eine Frau und zupfte an ihrem Kind. Ich hörte noch immer Blokkmonsta von Hirntot Records. Der Hass in meinem Kopf/ verwandelt mich zur Bestie/Ich bin am Explodieren/Und greif mir die Schussweste. Ich fand die Platte mittlerweile so wie alles um mich rum. Gar nicht so schlecht, aber auch nicht wirklich gut, ziemlich zero insgesamt. Hatte ich noch Angst vor irgendwas? Ich wusste es nicht. Die Polizei behauptet ja, Menschen auf Tilidin seien so gefährlich, dass man ihnen bei der Festnahme die Arme brechen müsse. Sie spürten keine Schmerzen und ließen sich auf die wildesten Verfolgungsjagden ein. Mir kam es sehr absurd vor wegzulaufen. Ich saß auf dieser Parkbank in Neukölln und fühlte mich wie ein abkühlender Klumpen Brei. 

Irgendwann löste ich mich dann doch und ging noch weiter in das finstere Viertel hinein, betrat eine arabische Teestube, freundete mich mit zwei Jugendlichen an und zog an einer Wasserpfeife mit Apfelgeschmack. Wenn ich das richtig verstand, hatten Ahmed und Khasib aus dem Libanon (die ja schließlich die Zielgruppe waren) noch nie von Tilidin gehört. Sowieso fanden sie Drogen offenbar doof und Schlägereien auch. Ihr Interesse galt spirituellen Angelegenheiten und Geld. Sie baten mich, ihnen den Urknall zu erklären. Ich rief in den Rauch der Wasserpfeife hinein, dass das Leben an sich vermutlich ein ganz, ganz seltsamer Zufall sei, der mit einer oder mehreren Explosionen vor unfassbar langer Zeit begonnen habe. Khasib erwiderte, dass das natürlich falsch, aber durchaus eine akzeptable Meinung sei. Dann fragte er mich, ob ich für ihn arbeiten wolle. Autos abholen, es sei äußerst lukrativ. Ich lehnte ab. Ob es mir irgendwie schlecht gehe, fragten Ahmed und Khasib. „Nein, Nein. Alles super“, log ich, stand auf und taumelte hinaus in eine lilafarbene, fleckige Dunkelheit. 

Dort ging ich eine Weile im Kreis und hielt vor einem Laden, auf dessen Tür stand: „Auch Waffenbesitzer haben Grundrechte.“ Ich sah ein Schwert mit dem Namen Excalibur, eine Armbrust im Landhausstil, ein Maschinengewehr aus der Zeit von Al Capone. Macheten hatten sie nicht und mir war ziemlich schlecht. Ich kehrte um. Auf der Karl-Marx-Straße drehten sich die Leuchtreklamen schon, verschleierte Frauen errichteten Straßensperren aus Kinderwägen, mit Goldketten und Militärhaarschnitten dekorierte Streetfighter, mit denen ich mich nicht anlegen wollte, schossen aus der Schräge an mir vorbei. Ich bückte mich, ich stolperte. Dann kotzte ich dreimal und erinnerte mich wieder an meine Mission: das Experiment. Ich riss mich zusammen, suchte die nächste U-Bahn-Station und fuhr ein bisschen schwarz. Man muss wissen, dass Berliner Fahrkartenkontrolleure gewalttätige, unrasierte Flegeltypen von gebirgsmassivartigen Ausmaßen sind, die die Verkehrsbetriebe in Gefängnissen und Anstalten für schwer Erziehbare rekrutieren. Ich fuhr also schwarz, grobes Ziel Karaoke-Bar. Die U-Bahn ruckelte, bremste, zischte, pfiff. Nach Norden und Süden, nach Osten und Westen, hin und zurück. Ich fuhr so was von schwarz. Und ich, der Mann mit der Intelligenz einer Coladose, war so superlocker dabei. Aber ich stieg nicht aus, weil ich irgendwie gelähmt war. 

Dann wurde es Abend und man hatte mich immer noch nicht kontrolliert. Ich wankte nach Hause, brach auf dem Sofa zusammen und schlief – quasi im Fallen noch – in brezelförmiger Verkrümmung ein. Mich überkam ein unendlicher Friede, eine galaktische Erleichterung. Ich freute mich darauf, dass alles bald zu Ende war. Ich freute mich auf meine Probleme. Ich freute mich auf meine Angst. Ich träumte von einer Armee aus Kuscheltieren, deren Anführer eine Art grau-weißes, hermaphroditisches Meerschweinchen war.

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