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N° 85, Kindheit

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Wenn wir weinen

Babys und Kleinkinder heulen laut, lang und oft. Aber auch bei Erwachsenen fließen Tränen. Über ein urmenschliches Bedürfnis

Von Florian Sievers; Bilder: Rose-Lynn Fisher

Babys und Kleinkinder weinen: laut, lang, oft. Aber auch im Erwachsenenalter fließen Tränen. Die Welle kommt unaufhaltsam. Der Auslöser? Volle Windel. Hunger. Müdigkeit. Irgend so etwas wird jedenfalls im limbischen System registriert, wo die Emotionen verwaltet werden. Möglicherweise hat der Sympathikusnerv gefeuert, falls sich der kleine Mensch gerade noch nach etwas gesehnt hat. Der bringt den Körper in einen Zustand der Aufregung. Aber wenn das zu nichts führt, übernimmt sein Gegenspieler, der Parasympathikus. Dann ziehen Gesichtsmuskeln die Mundwinkel nach unten und die Lider werden zu Spalten. Der Pegel des Stresshormons Cortisol im Blut steigt, ebenso der Puls. Die Atmung geht schneller und kommt aus dem Takt. Und dann geht es los. 

Die mandelgroßen Tränendrüsen in den äußeren Augenwinkeln unter den Oberlidern öffnen die Ventile. So oder so produzieren sie unermüdlich einen Fingerhut voll Tränen pro Tag, um die Augen feucht und sauber zu halten. Jetzt aber fahren sie die Leistung richtig hoch. Bald können die Tränenkanäle, die im Normalbetrieb die Flüssigkeit in den Rachen ableiten, die Flut nicht mehr bewältigen. Die dicken Tropfen, die Salz, Fette, Enzyme und Hormone enthalten, laufen aus den Augen über die Wange. Teils auch aus der Nase, als trüber Schnodder. In der Welle ist das Gehirn im Ausnahmezustand. Für Worte nicht mehr empfänglich.

Babys, Kleinkinder und auch größere Kinder weinen. Jugendliche und Erwachsene natürlich auch. Aber kleine Kinder viel häufiger. Laut. Lang. Oft. Zu allen möglichen Anlässen. Das Leben selbst beginnt meist mit einem lauten Schrei. Charles Darwin hielt Weinen noch für eine Körperfunktion ohne Zweck. Er verglich es mit dem heftigen Schütteln bei Schmerz oder Kälte – eine rein zufällige Reaktion. Letztlich nutzlos. Sigmund Freud spekulierte, dass das Weinen die Psyche reinige. Damit immerhin war er schon auf der richtigen Spur. Natürlich können Tränen auch eine simple Reflexreaktion sein auf Dinge, die das Auge reizen, wie Zwiebeln etwa oder Wind. Solche Auslöser bringen alle landlebenden Wirbeltiere zum Weinen. Doch nur bei der Spezies Mensch können auch Gefühle Tränen hervorbringen. Hunde heulen vielleicht herzerweichend, wenn sie allein gelassen werden, Katzen maunzen bitterlich. Ihre Augen aber bleiben trocken.

Poetische Landschaften: So sehen Tränen unter dem Mikroskop aus

Für Babys und Kleinkinder ist das Weinen einer der wichtigsten Kommunikationskanäle mit den Eltern. Die US-amerikanische Evolutionsanthropologin Dean Falk hat eine Theorie, wie es dazu kam: Als unsere Vorfahren vor rund 1,6 Millionen Jahren ihr Fell verloren hatten, konnten sich ihre Babys nirgends mehr festhalten. Die Mütter (meist waren es damals wohl die Mütter) mussten sie also im Arm tragen – aber für die Nahrungssuche auch ab und zu mal ablegen. Weil der Säugling nun schutzlos Kälte, Hunger und Raubtieren ausgesetzt war, prüfte er, erst durch ein zartes Krähen, dann, wenn nichts passierte, durch Schreien, ob die lebenserhaltende Versorgungseinheit Mama noch in der Nähe war. Bis heute steigt ohne Anwesenheitssignal eines Erwachsenen der Stresslevel von Säuglingen, weil sie sich vollkommen allein in der Welt fühlen – und damit in Lebensgefahr.

Es hat sich also ein Kommunikationskanal etabliert, über den Babys – bevor sie Gesten oder gar Sprache meistern – der Umgebung ihre Bedürfnisse mitteilen. Nähe, Unterstützung, Schutz, Nahrung, Wärme, Schlaf: Wenn das Baby nicht schreit, ist alles okay. Das gilt natürlich vor allem für Neugeborene, deren ganzes Leben sich im Tamagotchi-Modus erst mal nur um Essen und Schlafen, Schlafen und Essen dreht. Sie drücken quasi den Service-Button, wenn sie losheulen. Aber es geht auch ohne Bedürfnis: Weint ein anderes Baby irgendwo in der Nähe, dann kann sich das Weinen unter den Altersgenossen fortpflanzen. Babys sind ozeanische Wesen und erkennen die Grenze zwischen sich selbst und anderen noch nicht. Sie können die fremden Gefühle, die ihnen ihr Hirn spiegelt, nicht von den eigenen unterscheiden – und schwingen mit. Das tun mitunter auch Erwachsene, etwa wenn ihnen im Kino die Tränen über die Wangen laufen, weil ihre Neuronen auf die großen Gefühle auf der Leinwand reagieren. Oder im echten Leben auch aus Mitleid. Aber sie wissen, dass sie und die andere Person nicht derselbe Mensch sind.

Bis sie zwölf Jahre alt sind, tun Jungs und Mädchen das noch ungefähr gleich viel. Doch nach der Pubertät brechen Frauen rund fünf Mal häufiger in Tränen aus als Männer.

Auch Babyweinen lässt Erwachsene normalerweise nicht kalt. In deren Hirn aktiviert es dieselben Schaltkreise, wie dies auch Zwangsstörungen tun, binnen 100 Millisekunden reagiert es darauf. Ignorieren funktioniert nicht – und das gilt oft auch dann, wenn es nicht das eigene Kind ist. Ja, oft sogar dann, wenn man selbst gar keine Kinder hat. Das verleiht weinenden Babys eine gewisse Macht. Die aber missbrauchen sie nicht. Denn es ist ein – tatsächlich – Ammenmärchen, dass Babys oder Kleinkinder ihre Eltern mit Weinen manipulieren würden. Dafür sind ihre Hirne noch nicht weit genug entwickelt.

Bei Kleinkindern beruhigt sich die Lage. Zumindest etwas. Zwar können sie bei normaler Entwicklung schon sprechen. Aber damit noch längst nicht alles ausdrücken, was sie bewegt – geschweige denn ihren Willen immer durchsetzen. Dann reicht es manchmal schon, dass die Eltern Nein zu etwas sagen: Der Ärger über den Eingriff in die Selbstbestimmung und die erlebte Machtlosigkeit sind so groß, dass Tränen fließen. Mit zunehmendem Alter nimmt das Weinen als vorrangiger Ausdruck von Bedürfnissen zwar weiter ab. Doch das Bewusstsein wird jetzt komplexer, Bedürfnisse und Emotionen ebenfalls. Und damit kommen – neben Schmerzen natürlich, die immer und für alle Menschen ein Anlass zum Weinen sein können – neue Tränenauslöser hinzu. Wut oder Eifersucht zum Beispiel. 

Im jugendlichen Alter kann der Mensch dann auch aus Freude weinen. Aber auch das ist nach gängigen Theorien ein Ausdruck von gefühlter Hilflosigkeit. Weil man nicht weiß, wie riesige Freude zu bewältigen ist. Teenager weinen jedenfalls entweder ständig – oder gar nicht. Bis sie zwölf Jahre alt sind, tun Jungs und Mädchen das noch ungefähr gleich viel. Doch nach der Pubertät brechen Frauen rund fünf Mal häufiger in Tränen aus als Männer. Dahinter vermutet man vor allem kulturelle Gründe: In den meisten Gesellschaften ist Weinen von Jungs und Männern weniger akzeptiert – sie kriegen es darum von klein auf abgewöhnt.

Weinen ist also Kommunikation. Aber Tabea Kottmann zufolge noch weit mehr als das – nämlich auch die Grundlage für gesprochene Sprache. Kottmann leitet das interdisziplinäre Zentrum für vorsprachliche Entwicklung & Entwicklungsstörungen (ZVES) an der Universität Würzburg, das die weltweit einzige Datenbank mit Babylauten betreibt und mehr als eine halbe Million Laute von Babys rund um die Welt archiviert hat.

Frau Kottmann, Ihre Forschung beginnt bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Affen. Wie kommunizieren deren Kinder?

Kottmann: Erst mal ganz ähnlich wie neugeborene Menschenbabys, nämlich mit einem bogenförmigen Laut, wenn auch ohne Tränen. Aber es bleibt bei diesem einfachen Bogen. Er entwickelt sich nicht weiter.

Und das ist bei Menschenbabys anders?

Die Bogenform findet man auch bei allen menschlichen Babys. Aber von Tag eins an wird diese Form komplexer. Die Babys verwenden den universalen Bogen als Grundbaustein, den sie spielerisch ausprobieren und zu Zweifach- und Dreifachbögen anordnen. Zusätzlich wird das Ganze rhythmisiert  mit Pausenelementen und geübt durch krächzende Laute. Und schließlich wird der Schreibogen selbst auch noch variiert, indem die Babys unterschiedliche Betonungspunkte anwenden, also etwa das Schreimaximum gleich an den Anfang oder ans Ende setzen oder den Ton nur halten. Sie bauen sich ein rhythmisch-melodisches Repertoire.

Wovon hängt es ab, wie die Babys dieses Repertoire gestalten?

Vor allem von der Muttersprache. Bei wenige Tage alten französischen Babys etwa steigt die Weinmelodie eher an, bei deutschen fällt sie eher ab. Und in Kulturräumen mit tonalen Sprachen, in denen auch die Tonhöhen von Silben oder Wörtern wichtig für deren Bedeutung sind, weinen Babys mit viel mehr Tonhöhenunterschieden. Beim nordkamerunischen Volk der Nso konnten wir sogar beobachten, wie Babys die typischen Schnalzlaute aus der dort gesprochenen tonalen Sprache Lamnso in ihre Melodiebögen einbauten. Das ist nicht verwunderlich, schließlich hören die Kinder ihren Müttern schon ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat in der Gebärmutter beim Sprechen zu. Das Gehörte ahmen sie nach. Und mit denselben Melodiebögen sprechen sie dann auch selbst. Sprache beginnt also mit dem ersten Schrei.

Weinen ist die Grundlage von Sprache. Nicht nur deshalb sollte man es aushalten können. Weinende Babys, auf die schnell und mitfühlend reagiert wird, weinen bald darauf weniger und kürzer. Das gilt besonders nachts, wenn das Babyweinen den Schlaf perforiert und besonders zermürbend ist. Ignoriert man das, wie es so manche Erziehungsratgeber immer noch empfehlen, dann hören die meisten Kinder zwar wirklich irgendwann auf. Aber nicht etwa, weil sie schlafen gelernt hätten. Sondern weil sie davon ausgehen, dass ihnen sowieso niemand zu Hilfe kommt – und resignieren. 

Dabei braucht das weinende Kind – ebenso wie Erwachsene – Menschen, die mit ihm die Welle aushalten. Ihm zur Seite stehen. Ihm zeigen, dass Weinen in Ordnung ist. So lernt man, den eigenen Gefühlen und Körperwahrnehmungen zu vertrauen. Sie einzusortieren und zu bewerten. Es sei nämlich nicht so, dass es einem nach dem Weinen automatisch besser gehe als vorher, sagt der Psychologe Ad Vingerhoets von der Universität Tilburg, der sich seit mehr als dreißig Jahren mit dem Thema beschäftigt. Das komme einem nur so vor, weil die Stimmung beim Weinen richtig im Keller sei. Entscheidend sei etwas anderes: nämlich ob andere mitfühlend auf das Weinen reagieren. Und irgendwann, wenn die Tränen aufhören und die Welle wieder abebbt, kehrt die Ruhe zurück.

Zu den Bilder: Die US-amerikanische Künstlerin Rose-Lynn Fisher fotografierte für ihre Serie „The Topography of Tears“ ihre eigenen Tränen durch ein optisches Mikroskop. So entstanden Bilder wie  kartografische Luftaufnahmen, Bilder, die an florale Objekte erinnern, Bilder, die wie organische Landschaften wirken. Was zunächst als persönliches Projekt begann, ist für Fisher heute ein Nachdenken über die Poesie des Lebens. Und jede Träne für sie gleichzeitig ein Mikrokosmos einer kollektiven menschlichen Erfahrung.

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