Last orders please

Oh Mann, jetzt steigen die Briten auch noch aus dem Saufen aus

Von Jacinta Nandi


Kurz nach der WM 2006 kamen mich zwei Freundinnen aus London besuchen. Ich stellte sie einer Berliner Freundin vor, die uns sofort das ideale Programm für den Abend vorschlug: „Zuerst können wir zu dieser Ausstellung mit georgischen Künstlern auf dem ehemaligen Postamtsgelände gehen, nachher gibt’s noch ein Elektrokonzert in der Nähe und dann …“ Sie wurde durch meine englischen Freundinnen jäh unterbrochen – besorgt, fast panisch fragten sie: „Wird es Alkohol zu kaufen geben?“

Meine deutsche Freundin reagierte mit totaler Indifferenz: „Ich glaube schon, mir ist das ehrlich gesagt egal, ich trinke ja nicht so viel, mag den Geschmack von Alkohol nicht.“ Später, als sie aufs Klo ging, flüsterten mir meine englischen Freundinnen zu: „Sie mag den Geschmack von Alkohol nicht? Was ist das denn für eine Psychopathin?“

Lange Zeit gab es in meinem Kopf entscheidende Unterschiede zwischen England und Deutschland: Die Engländer fahren auf der linken Seite, die Deutschen auf der rechten, die Engländer machen Milch in ihren Tee, die Deutschen ein bisschen Zitrone, die Deutschen baden nackt, die Engländer nicht. Und der Hauptunterschied: Die Engländer trinken, die Deutschen trinken nicht viel (betrachtet aus der englischen Perspektive).

Ich habe gelernt, Klischees zu misstrauen. Aber diese Bilder trafen lange Zeit einfach zu: In Deutschland existierten wirklich Menschen, die wie meine Berliner Freundin keinen Alkohol mochten, und sie waren keine Seltenheit. Und die Engländer tranken wirklich viel, zu viel. Auch die Engländerinnen mit ihrer rosaroten Haut und ihren fleischigen Körpern, die aus kleinen, billigen bunten Kleidern platzten. Die englischen Männer mit ihren rosaroten Gesichtern und massigen Körpern, die aus den kleinen, gemütlichen, schmuddeligen Pubs auf die Straßen strömten. Im Inneren explodierte der Pub vor Leben, weshalb er nie ein ungefährlicher Ort war. Die Frauen drehten ihre Gesichter weg, wenn die Männer mal wieder anfingen, sich mit Gläsern und Flaschen zu bewerfen. Die Wände waren feucht von Schweiß, Blut, Tränen und oft auch Schimmel. Aber auch außerhalb des Pubs haben die Engländer gern viel getrunken. „It’s wine o’clock!“, verkündete meine Tante immer sonntags so gegen vierzehn Uhr.

So war es in meiner Jugend. Doch inzwischen bin ich 39, und Klischees gehören von Zeit zu Zeit auf den Prüfstand.

In Deutschland gab es zu der Zeit, als ich meine englischen Freundinnen meiner alkoholuninteressierten Berliner Freundin vorgestellt habe, mal Probleme mit sich ins Koma saufenden Jugendlichen, die dann meist im Krankenhaus landeten. Doch sie wurden abgelöst durch eine Generation von Selbstoptimierern und Ernährungsbewussten, die nur mit angezogener Handbremse trinken. Und in England? Es wäre gelogen zu sagen, dass die Engländer heute gar nicht mehr trinken würden. Sie trinken immer noch. Aber irgendwas ist auch dort anders geworden.

Sommer 2019. Meine Tante holt mich zusammen mit meiner Mama vom Flughafen Stansted ab, wir fahren durch die Landschaft von Essex nach Newbury Park, in den Londoner Vorort, aus dem ich komme.

„Schau mal“, sagt meine Tante, „das waren alles mal Pubs. Viele sind jetzt indische Restaurants geworden.“ Die Hälfte der Gebäude ist vernagelt, die andere Hälfte mit Elefantengöttern dekoriert.

„Pubs sind ein bisschen aus der Mode gekommen“, sage ich meiner Tante. „Die Leute wollen jetzt in Bars trinken.“

„Die Muslime trinken gar nicht“, sagt sie.

„Stimmt“, sage ich.

„Und die anderen Inder und Pakistani auch wenig“, sagt sie.

„Die Polen trinken“, sagt meine Mama anerkennend. „Die Polen trinken aber zu Hause. Sie sind Stubenhocker. Trinken zu Hause, sparen ihr Geld und schicken es dann nach Hause.“

„Ja“, sage ich.

„Ich mag die Polen“, sagt meine Tante. „Aber weißt du, was ich traurig finde, Jacinta?“

„Was?“, sage ich.

„Sogar weiße Engländer trinken heute wenig. Die Kirchen und die Moscheen sind voll, und die Pubs sind leer und vernagelt! Es ist so tragisch, so viele haben ihre Arbeit verloren.“ Meine Tante seufzt. „Die Leute denken nur an ihre Gesundheit, sie denken nicht an die Wirtschaft.“

„Sogar Studenten trinken nicht mehr richtig. Sie lernen nur für ihre Prüfungen. Sie haben Zukunftsängste, sagt man.“

„Und die Studenten gehen alle ins Fitnesscenter“, sagt meine Mama. „Was ist aus der Welt geworden? Kein Wunder, dass alle Terroristen werden!“

Ein paar Tage später besuche ich meine Stiefnichte, die jetzt 28 ist und ein kleines Kind hat. Wir sitzen zusammen, und plötzlich merke ich, dass ich mich langweile.

„Is it wine o’clock yet?“, frage ich sie hoffnungsvoll – es ist schon fast fünf.

„Oh“, sagt sie. „Bisschen früh, oder?“

Ich nicke, eigentlich hat sie ja recht.

„Ich trinke immer erst, wenn Georgie schläft“, sagt sie. „So spart man Geld und ist am nächsten Tag fitter. Ich mach uns einen Tee, okay?“

Ich nicke noch mal.

„Heutzutage trinken Eltern in England nicht mehr vor ihren Kindern“, sagt sie.

„Aber deine Mama hat immer vor dir getrunken, oder?“, frage ich. „Dosenbier, oder? Und manchmal Cider.“

Meine Nichte lacht. „Ja“, sagt sie. „Aber das ist lange her.“

Plötzlich merke ich, was passiert ist: Die Zeit, in der ich Teenager war, gehört jetzt der Vergangenheit an. Der große Unterschied in meinem Leben besteht nicht mehr zwischen Deutschland und England, sondern zwischen alt und jung. Fuck. So viel jünger als ich ist meine Nichte doch gar nicht. Eigentlich. Trotzdem: Jetzt bin ich alt und fühle mich wie eine Alkoholikerin. Vielleicht trinke ich nicht genug, um wirklich eine zu sein. Aber wenn ich ehrlich bin, würde ich das gern tun.

Meine Teenie-Jahre waren komplett alkoholisiert, voll von Billig-Cider und später von Alkopops. An der Uni änderten sich dann nur die Getränke – unsere Einstellung änderte sich nicht. „Blind drunk“, sagt der Engländer – und das war ich einmal pro Woche: so betrunken, dass ich nicht mehr sehen konnte. Ein großer Irrtum der Deutschen ist allerdings, dass sie dieses englische Trinkverhalten immer nur mit der Unterschicht verbinden. Aber dieses Bedürfnis, so viel zu trinken, dass du aus einem Taxi fällst, auf den Bürgersteig kotzt und in eine Sackgasse kackst, das gehörte allen. Alle tranken damals so viel, dass sie am nächsten Tag aufwachten und wussten: Sie waren zu Boden gegangen und sind auferstanden aus Ruinen.

Die Hälfte meines Erwachsenenlebens habe ich in Deutschland verbracht. Ich kann anerkennen, dass die Romantisierung der Trinkkultur, die in England lange betrieben wurde, den Alkoholismus verharmlost oder sogar verherrlicht hat. Wie viele Engländerinnen haben sich keine professionelle Hilfe geholt, weil sie, wann immer sie Geschichten über Kotze, Kacke und verlorene Tampons erzählten, bei ihren Freunden und Kollegen dafür mit einem Lachen belohnt wurden.

Ich denke an Hemingway, wie er über Fitzgerald gelästert hat und dann doch Alkoholiker geworden ist. Ich will nicht traurig sein, dass der Pub tot und das große Komasaufen in Deutschland vorbei ist. Und dennoch, wenn ich zurückblicke auf meine Jugendzeit und auf mein Land, empfinde ich eine Nostalgie, die fließend in Stolz übergeht. Nicht auf die Mengen, die man damals getrunken hat – aber auf die Leidenschaft, mit der man trank. Normalerweise trinken Menschen Alkohol, um vor irgendetwas zu flüchten, um Schmerz vergessen zu machen und sich zu betäuben. Vielleicht war das auch mal der Plan der Engländer. Aber sie haben dann gleich so viel getrunken, als wollten sie immer mehr von diesem Schmerz, als wollten sie endlich verstehen, warum ihre Seelen so wehtaten. Sie kackten in Sackgassen und kotzten ihre Schmerzen heraus. Und auch wenn die Pubs früher explodierten vor prallem Leben, ein bisschen Tod war auch immer dabei. Jetzt gibt es Kirchen, Moscheen, Elefantengötter und Fitnessstudios. Jetzt sehen die Pubs mit ihren vernagelten Fenstern aus wie alte Piraten, die kaum noch Zähne im Mund haben. Es war früher nicht alles besser. Es war früher nicht alles gut. Und trotzdem ist es irgendwie doch traurig jetzt.

Ich habe in Deutschland kein Heimweh. Ehrlich. Aber vielleicht will ich mal irgendwo leben, wo ich nicht immer die Erste bin, die die Weinflasche öffnen möchte.

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