33 Jahre Jägermeister, 33 Marlboro

Man kann in Tausende Wiener Kneipen gehen, wir sind in die MMM Espressobar

Von August Modersohn

Am Morgen danach begrüßt mich Mitra mit blutverschmierten Händen. Sie steht hinter ihrem Tresen, bis auf einen Stammgast hinten in der Ecke ist an diesem Samstagvormittag niemand in ihrem Lokal. Ob sie sich verletzt habe, frage ich. Mitra lacht ihr Raucherlachen und sagt: „Ist nur nasses Paprikapulver, kein Blut!“ Sie koche gerade Gulasch, für morgen. Dann gibt es, wie jeden Sonntag, kostenloses Essen für ihre Gäste, das hat sie mir gestern Abend schon erzählt. Was ich denn trinken wolle, fragt sie nun. Ich bestelle einen Espresso – wie es sich gehört in einem Laden, der MMM Espresso heißt. Könnte man meinen. 


Dass das MMM mehr ist als bloß ein Ort zum Kaffeetrinken, weiß ich nicht erst seit dem gestrigen Abend. Ich weiß es schon seit vergangenem Sommer, als ich ein paar Tage in Wien verbracht habe. Einen Abend bin ich mit Freunden auf der Suche nach einem letzten Bier in dieses „Beisl“ gestolpert, wie man hier zu urigen Kneipen sagt. Ich weiß noch genau, wie damals ein älterer Mann auf mich zukam, laut „Du!“ rief, mich in den Schwitzkasten nahm und mir dann einen starken Schnaps in die Hand drückte. Ich weiß noch genau, wie meine Angst vorm Erblinden verflog, als ich sah, dass alle diesen Schnaps tranken. Und ich weiß noch genau, wie alle gesungen und getanzt haben zu Akkordeon und Balkanorgel. 
Auch wenn es in der Sommernacht damals mehr wurde als dieser eine Schnaps, die Erinnerungen an das MMM blieben präsent, sie ließen mich nicht los. Was waren das für Leute, mit denen wir gesoffen haben? Haben sie serbisch gesungen? Bosnisch? Oder kroatisch? Kommt die Diaspora ins MMM, weil das Lokal für sie ein Sehnsuchtsort ist, eine Erinnerung an früher? Allein 143.324 Ex-Jugoslawen leben in Wien, so hat es das österreichische Statistikamt Anfang dieses Jahres festgehalten. Im ganzen Land sind es fast 370.000. Viele von ihnen kamen in den Sechzigern als sogenannte Gastarbeiter oder in den Neunzigern als Kriegsflüchtlinge. Was haben diese Menschen zu erzählen? 


Fast ein Jahr später also, an einem Freitagabend, betrete ich das MMM zum zweiten Mal. Es ist achtzehn Uhr und noch nicht viel los. Keine Balkanorgel, kein Akkordeon, kein lautes „Du!“, sondern skeptische Blicke von zwei Herren in weiß bekleckerten Blaumännern, die ihr Feierabendbier trinken. Ich gehe an den Tresen und bestelle mir bei der Barfrau einen Espresso. Während ich ihn austrinke, schaue ich mir die Fotos an, mit denen die Wände zugeklebt sind. Es sind vergilbte Erinnerungen an Abende im MMM: lachende Menschen, küssende Menschen, singende, tanzende, ja sogar nackte. Hier könnte es heute noch wild werden, denke ich mir. 


Da geht die Tür auf, und eine ältere Frau kommt rein. Sie begrüßt die Barfrau, die beiden Männer und auch mich mit Handschlag. Sie sei Mitra, die Besitzerin, sagt sie und geht in den Nebenraum. Ich frage, ob ich mich zu ihr setzen darf. „Gern“, antwortet sie und fragt, was ich trinken wolle. Erst mal nichts, danke. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, an diesem Abend keinen Alkohol zu trinken. Aber geht das überhaupt, einen Kneipenabend nüchtern zu erleben und dann authentisch davon zu berichten? Während ich noch darüber nachdenke, ruft Mitra der Barfrau etwas zu, das ich nicht verstehe – und plötzlich steht eine kleine dunkelgrüne Jägermeister-Flasche für sie und ein Sliwowitz für mich auf dem Tisch. Mitra lacht, ruft „Živeli“ und stößt mit mir an. Willkommen im MMM Espresso. 


In ihrem Beisl hat Mitra schon tonnenweise Jägermeister getrunken, sagt sie. Dass sie das Getränk gernhat, sieht man ihrem Laden an: Eine der Wände ist nicht mit Fotos, sondern mit dunkelgrünen Fläschchen tapeziert. Sind die alle hier getrunken worden? „Ja klar“, sagt Mitra. „Jede Woche haben wir einen ganzen Mistkübel voll mit den Flaschen. Die ganze Fassade vom Haus hätten wir damit schon vollmachen können.“ Raucherlachen. 


Mitra ist 65 Jahre alt, sie führt den Laden seit 33 Jahren. 33 Jahre Jägermeister, 33 Jahre Marlboro. Eigentlich war ihr Plan ein anderer. Als sie 1976 als gelernte Kosmetikerin von Belgrad nach Wien zog, dachte sie, sie käme bald „mit einem riesengroßen Sackerl voll Geld“ zurück. „Ich wollte mit einem Wohnmobil von Spital zu Spital ziehen und Pediküre oder Maniküre anbieten.“ Schon als Kind habe sie viel im Krankenhaus gelegen, insgesamt wurde sie sechs Mal an der Hüfte operiert. Da habe sie gemerkt, wie dringend nötig Fuß- oder Handpflege für Gips-Patienten ist. Ihre „übrigens noch immer gute Idee“ hat Mitra nie umgesetzt. War der Plan vielleicht doch zu absurd? „Nein, ich bin einfach zu schnell im Gastgewerbe gelandet“, sagt sie. „Wenn du einmal in der Maschine drin bist, kommst du nicht wieder raus.“ 
Dann steht sie auf, nimmt mein inzwischen leeres Glas in die Hand, geht in die Abstellkammer, kommt wieder und stellt mir einen neuen Sliwowitz hin. Wo kommt der eigentlich her, dieser Schnaps? „Den holen wir immer aus Serbien“, sagt Mitra. Wieder ruft sie der Barfrau etwas zu, dieses Mal verstehe ich immerhin ein Wort: „Jukebox“. Keine Minute später hören wir Milanče Radosavljević aus den Boxen singen, einen jugoslawischen Musiker. Der Laden füllt sich etwas, langsam kommt Stimmung auf. 


„Weißt du, was wichtig ist?“, fragt Mitra und deutet auf mein Notizbuch, das zwischen uns liegt. Ich soll jetzt also unbedingt mitschreiben. „Hier im MMM kommt ein Mischmasch zusammen: Orthodoxe, Muslime, Serben, Bosnier, Kroaten, Mazedonier, Albaner. Wie früher, in Jugoslawien. Wir haben schön gelebt. Der Krieg hat die Region aber 25 Jahre nach hinten geworfen. Ich bin in Jugoslawien geboren, jetzt bin ich Serbin und mein Mann Montenegriner – aber das ist doch alles wurscht. Unten ist schon Krieg, hier muss das nicht auch sein. Ich sage nicht, dass das ein serbisches Lokal ist, ich sage jugo.“ Was Mitra sagt, klingt schön, klingt einfach. Dass diese Jugo-Nostalgie aber doch nicht ganz so unproblematisch ist, wird spätestens dann klar, als das Wort Kosovo fällt. „Das ist eine andere Geschichte“, sagt Mitra. Mehr nicht. 
Es ist halb acht, als Bane in die Tasten haut. Er hat sich an die Balkanorgel gesetzt, jetzt spielt er sich ein mit Fingerübungen. Gemeinsam mit einer Sängerin, zwei Sängern und einem Akkordeonspieler wird Bane nicht nur den Abend, sondern fast die ganze Nacht für Stimmung sorgen. Jedes Wochenende machen sie das – immer acht Stunden „Vollgas“, wie Bane sagt, als ich mich zu ihm stelle. 


Bane präsentiert, was sein Gerät alles draufhat: Die Tasten sehen aus wie die eines Akkordeons, das Gehäuse wie das eines Keyboards. Seine Melodien kann Bane mit Beats unterlegen. „Hier: Polka!“ Er drückt auf einen Knopf und improvisiert im Zweivierteltakt. „Oder hier: Schlager!“ Nächster Knopf, nächster Beat: „Jazz!“ Und weiter: „Bossa nova!“ 
Über seine Orgel freut sich Bane immer noch so, als ob er sie zum ersten Mal spielen würde. Dabei macht er das schon seit fünfzehn Jahren. Jeden Freitag, jeden Samstag, jeden Sonntag: Musik im MMM. Unter der Woche arbeitet er als Paketbote. „Zwanzig Tage Wien, drei Tage Serbien“, so beschreibt Bane seinen Lebensrhythmus. „Hier: nonstop Arbeit!“ Noch fünf Jahre will er das durchziehen, sagt er. Dann wird er sechzig und möchte mit seiner Pension zurück nach Serbien gehen, zurück zu seinen drei Kindern. 


Es wird laut, als Bane und seine Band loslegen. Über fast jedem Tisch hängt eine Box, aus denen jetzt ein langsamer, kitschiger Schunkel-Beat dröhnt. Dann dreht Bane an einem Knopf. Der Beat wird schneller. Der Akkordeonspieler kommt ins Schwitzen. Vollgas. 


Die paar Gäste, die da sind, trinken Bier oder Cappuccino und schreien sich an. Nur Mitra singt mit. Sie sitzt immer noch auf ihrem Stammplatz und klopft im Rhythmus mit ihrem dunkelgrünen Fläschchen auf den Tisch. Einer der Sänger versteht das als Einladung, kommt zu ihr und schmachtet sie mit seinem Gesang von der Seite an. Mitras Tisch lacht, sie selbst genießt das Zittern in der Stimme des Sängers. Laut und schnell hintereinander verbindet er Vokale, meistens O und U oder I und E. O-U-O-U-O-U. I-E-I-E-I-E. Dieses Balkan-Timbre, es wird das Hintergrundgeräusch für die nächsten Stunden. 
Erst einmal aber, um 22 Uhr, verabschiedet sich Mitra. Sie muss morgen früh schon wieder hier sein, dann koche sie für Sonntag – Rindergulasch und Pasulj, einen serbischen Bohneneintopf, ihre Spezialität. Als sie geht, ist noch immer nicht viel los im MMM. Ob das heute wohl noch voll wird? Nachfragen bei der Barfrau: „Ja, klar!“ Sie schaut auf ihre Uhr. „Aber erst so um eins.“ Und tatsächlich, mit der Zeit treten immer mehr Leute durch die Tür. Sie kommen in Grüppchen: zwei Frauen, zwei Männer, drei Frauen, fünf Jungs. Und dann kommt Zdravko. 


Zdravko hat eine blaue Bomberjacke, schwarze Jeans und einen roten Kopf. Er ist oft hier, sagt er, als ich mich zu ihm setze. Vor fünf Jahren kam er als Bauarbeiter nach Österreich. „In Montenegro: keine Arbeit, kein Geld.“ Zdravko kann kaum Deutsch, aber meine Fragen versteht er. Er zeigt auf die anderen Gäste: „Kroatien, Bosnien, Serbien, Montenegro.“ Dann nimmt er sein Handy hervor, tippt drauf rum und legt es vor mich auf den Tisch. Er hat etwas in ein Übersetzungsprogramm eingegeben, nun steht auf dem Bildschirm: „Ich lebe und arbeite hier und schicke Geld an meine Kinder. Jetzt sind sie erwachsen und arbeiten.“ 

Als ich fertig gelesen habe, zeigt mir Zdravko auf seinem Telefon Fotos seiner beiden Töchter. Ob er seine Familie vermisst? Er tippt: „Zu viel.“ Warum sie nicht auch hier sein kann? „Weil es schwierig ist, ein Visum für Österreich zu bekommen.“ Will er zurück nach Montenegro? Diesmal braucht er länger für seine Antwort: „Ich habe hier eine muslimische Bosnierin getroffen. Ich werde wahrscheinlich in Österreich bleiben, bis ich sterbe. Österreich ist meine zweite Heimat.“ Und danach: „Ich habe viele Freunde hier und ich bin hübsch hier.“ 
Später tanzt er – erst mit der Barfrau, dann mit den anderen Gästen, Hand in Hand in der Mitte des Lokals. Eine ältere Frau mit rot gefärbten Haaren gibt den Takt an: die Arme in der Luft, elegante Schrittfolge. Dass es Zdravko gut geht in Wien, dass er hier „hübsch“ ist, könnte auch am MMM liegen. 
Am Morgen danach sagt Mitra mit ihren paprikaverschmierten Händen, dass ich unbedingt am Sonntag wiederkommen soll, wenn mir der Abend gut gefallen hat. Und so bin ich tags darauf schon wieder im MMM. Mitra brüllt meinen Namen, als sie mich entdeckt, und befiehlt: „Hol dir was zu essen! Ich habe nicht umsonst gekocht!“ Auf dem Büfetttisch stehen Gulasch, Pasulj und ein Spanferkel. Die Gäste sitzen vor vollbeladenen Tellern und Bane schon wieder hinter seiner Balkanorgel. 
Wie lange soll es das alles noch geben, frage ich Mitra, kurz bevor ich gehe. Sie wisse es nicht, sagt sie. „Aber ich bin keine Schildkröte, 300 werde ich sicher nicht.“ Bald will Mitra in Pension gehen. „Kur, warme Bäder, schöneres Leben.“ Nur lässt das MMM sie nicht so einfach los: „Ich bin schon öfter mal für längere Zeit weg gewesen – aber nach zwei, drei Monaten habe ich es nicht mehr ausgehalten. Mir fehlt die Stinkerei. Der Geruch.“ Immer kam sie zurück. Weil das MMM eben mehr ist als bloß ein Ort zum Jägermeister-Trinken.

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