Ali, Allah und ich

Wie ein Syrer das Bild meiner Heimat veränderte

Von Bartholomäus von Laffert

„Hallo, ich bin Ali. Ich wohne jetzt hier!“ Zwei Sätze, auswendig aufgesagt wie die Strophe eines Nikolausgedichts. Eine Ansage, die keinen Widerspruch erlaubte. Deshalb guckte ich – verkatert vom Vorabend und kaum in der Lage, einen nüchternen Gedanken zu fassen – nur leicht verdattert, als Ali samt Sporttasche an mir vorbei in die Wohnung schlappte. Richtig, es war ja Monatsende. Mein syrischer Kumpel Momo hatte mal gefragt, ob ich was wüsste wegen Wohnung, weil sein kleiner Cousin aus seiner rausfliegen würde. Und weil damals, Herbst 2016, immer irgendwelche Leute von irgendwoher bei uns übernachteten, hatte ich angeboten, dass der Junge erst mal ein paar Nächte bei uns pennen könne. Betonung auf: erst mal. Und: ein paar Nächte.


Und jetzt saßen wir da, Ali, ich, mein guter Kumpel Kai, tauschten ein paar schüchterne Blicke, und Alis Blick schwirrte in meinem Zimmer herum. Von den Kaffeeflecken (oder war es Bier?) auf der grau-grünen Sperrmüllcouch hoch zur Decke, an der eine Glühbirne flackerte. Auf dem Tisch vor uns ein paar abgegriffene Taschenbücher, Kippen, ein Dutzend leerer gelber Ottakringer Bierdosen, eine halb leere Flasche Billig-Gin. An der Wand zwei Fußballschals, daneben hatte jemand auf Arabisch geschrieben: „Kai hat den längsten Schwanz der Welt!“ Und aus dem Plattenspieler kam Tocotronic:


Ich mag erschaudern und nicht zu knapp.
Ich gebe jedem etwas ab.
All das mag ich,
aber hier leben, nein danke.

Da hatte ich jetzt in gewisser Weise den Flüchtling im Haus, den sie mir immer aufhalsen wollten. Diese Irren in ihren Online-Foren-Kommentaren. Der Laffert, der Flüchtlingsschwanzlutscher solle doch erst mal selbst halb Syrien bei sich zu Hause aufnehmen, bevor er sich noch mehr Willkommensdreck aus den Fingern saugt, hatten sie geschrieben. Und jetzt hatten wir nicht halb Syrien in der WG, aber zumindest mal einen Syrer, und der ging auch nicht mehr weg. Denn wie wir bald feststellten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein 18-jähriger Syrer, der kaum Deutsch spricht, in Wien eine Wohnung findet, etwa so hoch wie die Möglichkeit, dass Baschar al-Assad noch heute gemeinsam mit Donald Trump und Kim Jong-un den Weltfrieden besiegelt.


Also stellte sich Ali auf die kaffeebefleckte Couch ein und Kai und ich uns die Frage: Was machen wir mit dem Burschen? Integrieren, haben sie immer gesagt. Den Syrer in Österreich und den 18-Jährigen in der Erwachsenenwelt. Kai hatte den Krebs überlebt, ich fünf jüngere Geschwister, Ali sollten wir auch noch schaffen. So haben wir gedacht.


Integration ist ja einer dieser wahnsinnig wichtigen Begriffe unserer Zeit. So wie Gendern oder bedingungsloses Grundeinkommen. Ich mochte das Wort schon deshalb nicht, weil die, die am lautesten damit rumröhrten, irgendwelche neoliberalen Fatzkes waren, die Kommentare in der „Welt“ schrieben und den Integrationsgrad an der Produktivität messen wollten, oder reaktionäre Spinner, für die einer erst dann integriert war, wenn er auf Wienerisch die Mitfahrer in der Bahn zulaberte oder das Boulevardblatt „Krone“ las. Für letztere war Integration Unterwerfung, für erstere Anpassung. Dann gab es noch die dritte Variante, die mit Gegenseitigkeit und interkulturellem Austausch zu tun hatte. Ein ermüdender Kampf für alle, die es ernst meinten.


Diese Integration war – größter Irrtum aller Zeiten – KEIN linearer Prozess, in dem man mit etwas Sprachelernen und Benimmkursen aus dem muslimischen Flüchtling den Supermigranten formte. Integration passierte in kleinen und großen Schockerlebnissen, die sich schmerzhaft wie Tattoonadeln unter die Haut bohrten und dabei bleibende Muster auf Hirn und Seele hinterließen.


Wenn Alis Ankunft der erste Schock war, kam der zweite im Monat drauf. Anfang Winter, als Kai tagsüber in der Uni saß und ich im Café, während Ali zu Hause herumlungerte. Wochenlang wartete er auf seinen Deutschkurs, wurde immer frustrierter und immer fetter, weil er seinen Frust in Form von Tiefkühlpizza mit Mayo in sich reinfraß und mit seinen einzigen beiden Freunden in der Küche rumhing, der ollen roten Shisha mit dem schwarzen Stern drauf und seinem gesprungenen iPhone 4. Aus der Shisha kam giftig-süßer Doppelapfelrauch, aus dem iPhone der noch giftigere geistige Dünnschiss, mit dem die selbst ernannte Krone der Schöpfung, die Anhängerschaft der FPÖ, das Internet vollschmierte.
Als ich an diesem Abend heimkam, ballerte gerade Haftbefehl „Saudi Arabi Money Rich“ aus den schäbigen Aldi-Boxen in der Küche.


Mir doch Schwanz, was du Schwanz so komponierst.
Ich komm von hier, du kommst von da,
fick deine Ma, hast du kapiert?

Ali hustete, grinste dieses unfassbare Grinsen und hielt mir ganz aufgeregt sein Telefon unter die Nase, als hätte er darauf den ganzen Nachmittag gewartet. Da hüpfte in einem Youtube-Video der Zottelbart-Salafist Pierre Vogel vor einer Gruppe Flüchtlinge auf und ab und rief ständig Dinge wie: „Wir müssen unseren muslimischen Geschwistern helfen. Allahu akbar!“ Ali hatte Glitzeraugen bekommen und rief „Guter Mann, oder!?“. Ich war tomatenrot geworden vor Wut und rief: „Mach den Salafisten-Arsch da unter meiner Nase weg! Und guck das nie wieder!“ Alis Augen wurden traurig und verständnislos, und ich fühlte mich wie ein großer Spieß-Bruder, der dem kleinen aus Bosheit das bisschen aufkeimende Lebensfreude missgönnte. Und schob deshalb noch eine Erklärung hinterher, in der ich Pierre Vogel zur rechten Hand des IS-Kalifen al-Baghdadi aufbauschte. Und der war schließlich zusammen mit dem Diktator dran schuld, dass Ali mit UNS in dieser Ranzbude herumsaß und nicht zu Hause bei Mama. Verstehst du das, Ali? Verstehst DU? Das war das letzte Mal, dass er mir mit so was kam.


Den nächsten großen Schock setzte es im Frühjahr 2017. Ich hatte eine Freundin angeschleppt, wir hatten Brettspiele gespielt und ordentlich gebechert, und als sie irgendwann heimging, habe ich ihr zum Abschied einen Knutscher auf den Hals gedrückt. Als die Tür zugeschlagen war, hat Ali mit seinen großen braunen Teddybäraugen gerollt und mir jungskollegial zugezwinkert. „Bruder, du stehst doch auf die!“, hat er gerufen. „Schön wär’s“, hab ich gesagt. „Aber die Gute ist lesbisch. Eine schwule Frau sozusagen.“ Und dann hat Ali auf einmal ausgesehen, als hätte der Blitz in ihn eingeschlagen, erst ungläubig, dann entsetzt, und dann hat er angefangen zu stottern wie ein ruckelnder Zweitaktmotor. „Scheiße! Mein Papa hat gesagt, dass im Koran steht, dass Allah von Schwulsein sauer wird und Steine auf die Menschen wirft!“


Ich war immer tolerant, hatte nie versucht, Ali den Allah auszutreiben, genauso wenig wie meiner Großmutter den lieben Gott. Sollten sie ihren schlecht geschriebenen Religionsramsch doch lesen, solange sie mich damit in Ruhe ließen. Aber bei so viel wirrem Gebrabbel konnte einem ganz schwindelig werden. Deshalb packte ich Ali an den Schultern, schüttelte ihn ein bisschen und sagte in belehrendem Pädagogenton: „Ich hab zwei Semester Islamistik studiert, hab den Koran komplett durchgelesen, und das Einzige, was da steht, ist, dass Allah alle Menschen gleich lieb hat und die Homos sogar noch ein bisschen mehr!“ – „Wallah?“, hat Ali gefragt. „Wallah“, habe ich geflunkert. Die Homo-Sache war damit erst mal vom Tisch.


Trotzdem konnte ich an diesem Abend nicht pennen, die Sache beschäftigte mich. Ich stand rauchend am Fenster und habe Wein aus einem ausgespülten Marmeladenglas getrunken, auf das friedlich schnarchende Jungengesicht runtergeschaut und nachgedacht: Wo wäre Ali gelandet, wenn nicht bei uns? Wer würde großer Bruder spielen und ihm die Welt erklären, wenn nicht Kai und ich, die wir selbst gerade ein bisschen über 20 waren und das Leben kaum kannten? Pierre Vogel oder irgendein anderer Youtube-Prediger vielleicht? Die Klatschpresse hatte mich mit ihrem aufdringlichen Terrorflüchtlingspanik-Geröhre inzwischen so weit, dass ich immer zuerst das Undenkbare dachte und zu fantasieren anfing: Ali mit seinen Teddybärenaugen und den flaumig schwarzen Elvis-Koteletten hinterm Steuer eines Mietlasters. Wie er damit voll Karacho über die Maria-Hilfer-Straße brettert. Wie seine österreichische Gegnerschaft als Blutsuppe gegen die Schaufenster flatscht. Da klebten sie nun. Der bis übern Hals tätowierte Türsteher, der uns angegrunzt hatte: „Mit dem kemmt’s ia do ned nei!“ Die Polizisten, die Ali in ihren verdachtsunabhängigen Intensivkontrollen einmal die Woche auf Drogen filzten, weil Alis Haut so einen Jörg-Haider-ähnlichen Braunstich hatte. Die alten Grantler in der U-Bahn, die beim Aussteigen ein „Musulmane, schleich di!“ raunzten, die Boulevard-Schmierfinken, der HC Strache, die gesamte Rest-FPÖ, Sebastian Kurz, der Nachbar über uns, die giftigen Sozialamtsdamen, Red-Bull-Felix …


Ich lebte da schon drei Jahre in Österreich, und Wien war zu meinem Zuhause geworden. Und wie das bei einem Zuhause so ist, verliert man sich oft in Details, verliert den Blick für das große Ganze. Man verschanzt sich in homogenen Seifenblasen, in denen man sich die Welt drum rum schönsaufen und mit angewiderter Faszination bestaunen kann: Wie sie in ihren Anzügen und Arbeiterklamotten morgens in der Bahn saßen, alle gleich die „Kronen“- und die „Österreich“-Zeitung auf dem Schoß, die gerade entweder auf den Polit-Mozart (kein Scheiß!) Sebastian Kurz ejakulierten oder eine Flüchtlingsflut auf der Titelseite ankündigten. Wie sie auf einmal alle Österreich an die Spitze again bringen wollten. Wie sie jetzt Burka-Frauen aus der U-Bahn trugen und die Menschen in Chartermaschinen nach Afghanistan setzten. Und vielleicht hätte ich mich auf eine zynische Art ein bisschen über ihre Blödheit gefreut, als sie am 15. Oktober 2017 mit fast 60 Prozent eine rechts-rechte Bundesregierung wählten und einen Ex-Neonazi zu ihrem Vizekanzler, weil das ganze Rechtsgeruckel meine Auftragslage bei deutschen Medien unerwartet verbesserte. Wäre Ali nicht gewesen.


Den finalen Schock setzte nicht Ali, sondern ich mir selbst. Es war mehr ein Schlag, als ob man gegen eine Starkstromleitung pinkelt. Oktober 2017, da hatte Österreich gerade gewählt und Ali hatte zu mir gesagt: „Bruder, versprich mir, du beschützt mich, wenn sie mich zurückschieben wollen!“ Ich hatte gelacht.


Jetzt standen wir in der vollen U2 Richtung Lieblingskneipe, und Ali fragte mich so, dass alle mithören konnten: „Bruder, ich brauche eine Freundin. Sag mir bitte, wie man richtig mit einem österreichischen Mädchen spricht!“ Ich hatte weiß Gott schon Schlimmeres in der Öffentlichkeit von mir gegeben. Aber bei dem dunklen Jungen, da fingen die österreichischen Leute natürlich an, wütend zu glotzen, sie durchlöcherten uns mit ihren missbilligenden Der-Ausländer-will-unsere-Frauen-ficken-Blicken. Ich wurde langsam paranoid.


Anstatt „Was gibt’s ’n da zu glotzen?“ in die Menge zu fragen, trete ich Ali reflexartig gegens Schienbein und sage, dass er jetzt bitte bloß die Fresse halten solle, weil die Leute genau wegen solchen wie ihm durchdrehen würden. Alis Grinsen war zu einem Fragezeichen verwischt. Ich glaube, er hat die Welt nicht mehr verstanden. Ich auch nicht.
Wie eine scheppernde Ohrfeige ist mir die kühle Wiener Nachtluft beim Aussteigen ins Gesicht geklatscht. Ich sackte innerlich zusammen. Was zur Hölle hatte ich gerade gesagt, was getan? War es nicht das Natürlichste von der Welt, dass sich ein 18-jähriger Junge verlieben wollte, Sex und alles, so wie alle 18-jährigen Jungen? Wie sehr hätte sich mein verwirrtes Teenager-Alter-Ego damals einen großen Bruder gewünscht, der ihm mal die Welt und die Frauen erklärt hätte. 
Zum Teufel, es war doch unmöglich die Schuld eines syrischen Teenagers, dass das Land am Durchdrehen war. Vielmehr die Schuld einer hyperventilierenden Gesellschaft und deren selbst gewählter Politiker und Medien. Die mir das Hirn so weichgespült hatten, dass ich unterbewusst trotz Refugee-welcome-Trallala längst einer von ihnen geworden war und in jedem Fremden einen Flüchtling sah und in jedem Flüchtling eine potenzielle Bombe.
Und dann saßen wir abends wieder in unserer Kneipe zusammen und soffen und rauchten Selbstgedrehte und sagten intellektuelle Sachen und taten ganz entsetzt und verwundert, wie es so weit kommen konnte, und spielten schnulzige Musik von Kraftklub:

Und nein, ich war nie anti-alles, ich war immer anti-ihr,
doch hab schon lange angefangen, mich mit Dingen zu arrangieren.
Und genau das wollt ich nie, bin schon viel zu lange hier.
Ich muss hier weg, denn ansonsten werd ich irgendwann wie ihr

Ich brauchte ein Bier, und zwar schnell. Ali auch.

Letzten Monat ist Ali ausgezogen, ein paar Bezirke weiter. Er musste, sein großer Bruder, der leibliche, lebt jetzt in der Stadt. So unerwartet wie Ali gekommen war, war er ein Jahr später wieder verschwunden. Nur die olle rote Shisha mit dem schwarzen Stern drauf stand verwaist in der Ecke, und in der Couchritze steckte das Camouflageshirt mit Ali-Geruch. Manchmal schnupper ich noch dran, so wie andere an den Shirts ihrer Ex-Freundinnen. Im Raum war es plötzlich dunkel ohne Alis Grinsen.


Mein Kumpel Kai und ich haben uns deshalb ein paar Dosen Bier aufgemacht. Uns zugeprostet, „Auf Ali“ gesagt und Bilanz gezogen. Ali spielt jetzt Fußball im Verein, später will er mal Koch werden oder irgendwas mit Autos. Der Junge raucht kaum noch Shisha, dafür bechert er ganz ordentlich Bier. Mit dem Koran ist er vorsichtig geworden, das Sex-vor-der-Ehe-nur-in-den-Arsch-Prinzip hat er für sich verabschiedet, dafür hat er uns vorgeführt, wie man souverän ein Kondom über eine Banane rollt, und ist gerade dabei, Tinder durchzudaten. Ramadan macht er inzwischen auch nicht mehr, dafür isst er jetzt manchmal eine Eitrige am Würstelstand: gegrillte Schweinswurst, aus der Käse tropft.


„Wallah integriert?“, habe ich zu Kai rüber gefragt. „Sagen wir so“, hat Kai geantwortet und in seinem Rauschebart rumgekrault. „Wir haben unser Bestes gegeben. Ali ist jetzt halt so wie wir.“


Ob das so gut ist, da bin ich mir selbst nicht ganz sicher.

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