Liebe lieber ungewöhnlich

Leyla ist schon 33, aber immer noch Jungfrau

Von Anne Waak

Leyla und ich kennen uns jetzt seit mehr als zehn Jahren, seit wir Anfang 20 waren. In dieser Zeit war ich vier Mal verliebt, zwei Mal davon ernsthaft. Ich habe eine nicht geringe Anzahl an Männern geküsst und war mit nicht eben wenigen von ihnen auch im Bett. Die Anzahl der Männer, mit denen Leyla währenddessen geschlafen hat: exakt null.  
Keine von uns beiden erinnert sich daran, wann wir das erste Mal über ihre Haltung zu einem wichtigen Teil des Lebens gesprochen haben. Sicher ist, dass es sehr früh war in unserer Freundschaft; schließlich handelt es sich dabei um nichts, was Leyla verschweigt oder wofür sie sich in irgendeiner Weise schämen müsste. Aber doch ist es in unseren Breiten erklärungsbedürftig.   
Leyla ist die älteste Tochter einer wohlhabenden britischen Familie. Die Eltern ihrer Mutter stammen aus dem Iran, die ihres Vaters aus Indien. Ihre Eltern kannten sich schon seit Jahren, bevor sie sich mit Mitte 20 ineinander verliebten. Ein halbes Jahr später heirateten sie, in den darauffolgenden Jahren bekamen sie sechs Kinder. Leyla arbeitet heute in London für eine ziemlich große Galerie. Sie besitzt eine beeindruckende Sammlung an Designerkleidern und -schuhen und sieht blendend aus, ein wenig wie die von der Schönheitschirurgie unangetastete Cher im Film „Silkwood“. Außerdem betet sie fünfmal am Tag, hat in ihrem Leben noch keinen Tropfen Alkohol getrunken und hatte noch nie Sex.  
Dafür spricht sie sehr offen darüber – genauer über den existierenden Mangel an Sex in ihrem Leben. Auch urteilt sie über die Art von Beziehungen, die ihre Freunde führen. „Je älter ich werde“, sagt sie, „desto klarer wird mir, dass es keine richtige oder falsche Art und Weise gibt, zu lieben.“  
Als ich sie frage, wann ihr klar wurde, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen muss, um den Regeln des Islam gerecht zu werden, antwortet sie: „Das war implizit – in der Familie, in unserer Kultur und in den religiösen Schriften.“ Sie hat nie darüber nachgedacht oder eine bewusste Entscheidung getroffen. „Vielleicht bin ich hoffnungslos idealistisch, aber ich glaube, dass sich Geist und Seele begegnen sollten, bevor sich die Körper begegnen. Man liebt sich schon, bevor man sich überhaupt berührt.“ Die anderen Aspekte einer Beziehung, sagt sie, wirkten stärker, wenn man den Sex herauslässt. Wie bei einem Blinden, der umso besser hört und tastet. 
Was sie nicht weiß und nicht wissen kann, ist, dass Sex etwas ist, das man lernen muss. Etwas, das am Anfang ziemlich enttäuschend sein kann und das mehr Spaß macht, je genauer man sich selbst kennt. Und dass es etwas ist, das mit manchen Menschen funktioniert, mit manchen aber auch gar nicht – relativ unabhängig davon, ob man sich mag oder nicht. Und ganz unabhängig davon, ob man verheiratet ist oder nicht.   
Ihre Eltern charakterisiert Leyla als sehr liberal, nie würden sie ihr etwas aufdrängen oder sich gar in die Wahl ihres Ehemannes einmischen. Aber es war eben immer auch klar, dass sie etwas von den anderen Kindern an ihrer Schule unterschied. Denen, die Schinkensandwiches aßen oder irgendwann anfingen zu trinken. „Meine Eltern sagten dann immer: ‚Wir machen das einfach nicht.‘ Sie haben uns immer ein starkes Gefühl für unsere Identität vermittelt und den Stolz auf das, was wir sind.“ Leyla sagt, sie mochte es immer, ein bisschen anders zu sein als die anderen. 
Nach dem Koran darf Sex ausschließlich innerhalb der Ehe stattfinden. In Sure 17, Vers 32 heißt es: „Und lasst euch nicht auf Unzucht ein! Das ist etwas Abscheuliches – eine üble Handlungsweise!“ Die Ehe ist das Fundament der arabischen Gesellschaft – und jener traditioneller Moslems der westlichen Welt. „Wer heiratet, hat die Hälfte dieses Glaubens erfüllt; für die zweite Hälfte fürchte er Gott“, so zitiert die britische Wissenschaftsjournalistin Shereen El Feki den Koran in ihrem Buch „Sex und die Zitadelle“.  
Leyla erinnert sich noch an den Aufklärungsunterricht in der Schule, in dem es hieß, man solle Sex nur in der liebevollsten aller Beziehungen haben. „Für mich war und ist das die Ehe. Sie ist die stabilste Verbindung, innerhalb derer diese wichtige, heilige Sache stattfinden kann.“  
In der Heimat ihrer Großeltern (oder auch in der englischen Provinz) wäre Leyla längst verheiratet und Mutter von zwei bis fünf Kindern. Sie hätte irgendwann, vielleicht auf einem großen Fest, einen jungen Mann getroffen, hätte Zeit mit ihm verbracht, und einige Zeit später hätten beide gewusst, dass sie einander heiraten würden. Dafür, so beschreibt sie das, hätten sie nicht einmal verliebt sein müssen. Die Liebe hätte sich eingestellt, wenn sie eine gewisse Zeit miteinander verbracht hätten. Manche sind der Meinung, diese Ehen halten genau deswegen, weil sie nicht allein auf Liebe basieren, sondern auch auf Herkunft, Tradition und Gemeinschaft.  
In Gesprächen über ihre Situation bezieht sich Leyla manchmal auf Romane des 19. Jahrhunderts, von Jane Austen oder Thomas Hardy. Wie in der Welt der Protagonistinnen dieser Bücher ist auch bei Leyla die Wahl des Ehemannes keine rein individuelle, sondern in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Im Westen hat sich das durchgesetzt, was die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch „Warum Liebe weh tut“ das „Regime der Authentizität“ nennt. Das setzt voraus, dass die Akteure ihre Gefühle kennen, dass sie aus ihren Gefühlen heraus handeln. Diese müssen dann auch die Bausteine einer Beziehung bilden. „In traditionellen Gesellschaften hingegen hat Authentizität keinen Ort im Vokabular menschlicher Ideale. Hier sind die Menschen mit den Lebensoptionen zufrieden, die ihnen ihr Gesellschaftssystem bietet: Als ihr höchstes Gut begreifen sie die Erfüllung einer festgelegten sozialen Funktion.“  
Aber Leyla lebt nicht in Teheran oder Delhi, sondern in London, eine Zeit lang auch in Berlin. Weder hier noch da war sie je Mitglied der religiösen Gemeinschaft; der Heiratsvermittlungsservice der East London Mosque kommt für sie nicht in Frage. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass sie dort jemanden treffen würde, der ihr gefällt. Die Männer, die Leylas Augen erfreuen, sind blauäugig und ein wenig untersetzt, haben lockiges Haar. „Der typische Jude“, sagt sie. Oft sind es Künstler oder Nachtlebentypen.  
Leyla ist die größte Romantikerin, die ich kenne. Vielleicht liegt das schlicht daran, dass sie in amourösen Belangen die Erfahrung eines Teenagers hat. Sie sieht sich als jemand, der für die Liebe alles gibt, der aber auch umworben werden will. „Der halbe Islam dreht sich um Manieren und Etikette und wie man das in die Praxis umsetzt. Ich glaube an altmodisches Daten, da gehe ich keine Kompromisse ein.“ 
Was in ihren Erzählungen aber auch durchscheint, ist der Glaube, dass Männer keine Gelegenheit zum Sex auslassen und Frauen vor ihnen geschützt werden müssen. Sie sagt: „Mir tun meine Freundinnen leid, die diesen Teil von sich weggegeben haben und scheiße behandelt wurden.“ Ihr ist auch klar, dass man auch in einer Ehe verletzt werden kann. „Aber die Hürden sind schon sehr viel höher.“  
Leyla steckt irgendwo zwischen diesen zwei Modellen fest: dem der traditionellen Ordnung gewidmeten islamischen und dem gefühlsbetonten westlichen. Sie will sich durchaus verlieben, durchaus heftig. Nie würde sie jemanden heiraten, den sie nicht liebt. Als ich sie einmal fragte, wie sie sich die ideale Begegnung vorstellt, sagte sie: „Ich treffe jemanden, wir sprechen fünf Minuten, und er sagt: ‚Ich will dich heiraten.‘ Keine Fragen, beide sind sich sicher. Und das ist es dann.“ Auf ihrer Hochzeit soll Bach gespielt werden, Arvo Pärt, Kate Bush und Bollywood-Rock’n’Roll aus den 60er-Jahren.
Leyla will – und wird, da bin ich mir sicher – ihrer Religion entsprechend handeln. Sie hat recht, wenn sie sagt: „Bis in die 60er-Jahre lebten alle Leute so wie ich. Für mich hat sich also nichts geändert.“ Es ist die Welt um sie herum, die ganz anders funktioniert als noch vor ein paar Jahrzehnten. 
Natürlich trifft Leyla Männer. Seit ich sie kenne, hatte sie drei oder vier unschuldig gebliebene Beziehungen. Es läuft, erzählt sie, immer nach demselben Muster ab. „Ich lege die Karten sehr früh auf den Tisch. Am Anfang sagen sie: ‚Ach, wirklich. Erzähl mal. Das interessiert mich!‘ Und ich gebe ihnen jedes Mal Bücher zu lesen, wir hängen rum, alles ist gut. Kein Sex vor der Ehe heißt nicht, dass wir nicht Zeit zusammen verbringen können. Sogar Küssen ist drin. Aber nach ein paar Monaten merken sie, dass es nicht funktioniert für sie.“ Bislang war kein Mann bereit, lang genug zu warten und zu heiraten. „Aber das hat weniger mit mir zu tun als damit, dass ich mir immer promiskuitive Pussys suche – Männer ohne Rückgrat.“ 
Dazu kommt aber ohne Frage, dass der Betreffende, sollte er nicht ohnehin Moslem sein, vor der Hochzeit zum Islam konvertieren müsste. Leylas Kinder sollen schließlich Moslems werden. Anders als im Judentum geht der Glaube im Islam vom Vater auf die Kinder über, daher ist es entscheidend, dass dieser Moslem ist. „Ich habe kein Problem mit unterschiedlichen Kulturen; wie gläubig mein Mann ist, ist seine Sache. Aber er sollte beten, keinen Alkohol trinken und kein Schwein essen. Das sind kleine Zugeständnisse gemessen daran, was er dafür bekommt.“ Viele Ehen in ihrer Familie sind zustande gekommen, indem ein Partner konvertierte; letztendlich sei es eine Frage der Liebe. Alle von Leylas Geschwistern sind noch unverheiratet – und jungfräulich. Mutmaßlich. „Jeder von uns hat seine eigenen Beziehungen und sein eigenes Gewissen. Wir sprechen untereinander nicht darüber, wer mit wem seine Zeit verbringt.“  
Leyla erinnert sich, dass ihr mit 18 klar gewesen sei, wer sie ist. Sie entschuldigt sich nicht mehr dafür, dass sie keinen Sex haben kann. Das ist nun mal das, woran sie glaubt. „Ich werde mich nicht unter Druck setzen lassen.“ Diese unerschütterliche und bewundernswerte Sicherheit, was die eigenen Überzeugungen und Werte angeht, strahlt sie genauso aus wie die Jane-Austen-Figuren, die Eva Illouz beschreibt: „Ihr Selbst- und Selbstwertgefühl wird ihnen von niemandem verliehen, sondern rührt von ihrer Fähigkeit her, moralische Gebote, die quasi-objektiv existieren, zu begreifen und ihnen Geltung zu verschaffen.“   
Und doch wird es nicht leichter für sie, je mehr Jahre ins Land gehen. „Ich will keine 40-jährige Jungfer sein und als total weird gelten. Sorgen macht mir diese Frage: Worin besteht der Sinn, einen tollen Job, eine hübsche Wohnung, ein interessantes Leben und einen exzellenten Musikgeschmack zu haben, wenn man das mit keinem Motherfucker teilen kann?“ Und Leyla wünscht sich Kinder. Irgendwann wird es dazu zu spät sein.  
Als ich sie frage, ob es sie traurig macht, wenn sie ihre verheirateten Freundinnen sieht, die Kinder haben, sagt sie: „So habe ich nie gedacht. Die haben ihre eigenen Probleme.“ Aber wenn ich an Leyla und die Vertracktheit ihrer Situation denke, erscheinen mir meine eigenen Beziehungsprobleme als Kinkerlitzchen.  
Davon abgesehen verpasst Leyla selbstredend einiges, das ist auch ihr klar. „Natürlich gibt es die Versuchung. Es wird der Moment kommen, wo es mir nicht mehr so leichtfallen wird, nein zu sagen. Ich bin 33 Jahre alt, verdammt. Ich denke rund um die Uhr an Sex.“ 

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