Vom gewaltsamen Verhältnis zu sich selbst

Der Philosoph Christian Grüny über die Mär, dass wir uns nicht mehr genügend spüren

Müssen wir uns eigentlich piercen, tätowieren und auf die Fresse hauen, weil wir den ganzen Tag wie betäubt vor dem Computer hängen und uns sonst nicht mehr spüren? Bei solchen Fragen kann der Philosoph Christian Grüny* nur mit dem Kopf schütteln

DUMMY: Ist ein Leben ohne Schmerz denkbar? 
Christian Grüny: Biologisch betrachtet im Prinzip schon, und tatsächlich existiert ja solches Leben. Es gibt Menschen mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit. Die haben große Probleme, weil sie sich ständig selbst verletzen. Das kann ganz trivial sein: Wenn sie z.B. ihr Gewicht beim Stehen nicht rechtzeitig von einem Fuß auf den anderen verlagern, gehen die Gelenke langfristig kaputt. 

D: Wozu ist Schmerz gut? 
CG: Rein funktional betrachtet hat Schmerz eine Warnfunktion. Er sagt einem, was man nicht tun sollte, wovon man sich entfernen sollte. Wie ich mich also besser nicht verhalte.

D: Sollte man sich dann ein Leben ohne Schmerz überhaupt wünschen? 
CG: Beim Leben ohne Schmerz steht ja immer das Aufhören des Leidens im Hintergrund. Im Fall des körperlichen Schmerzes gibt es zwei Extrempositionen: Die Einen wollen, dass er im ganzen verschwindet. Die anderen wollen den Schmerz auf keinen Fall missen, weil er für sie ein Indikator von Wirklichkeit ist, von Wahrheit und Tiefe. Weil aus Schmerz angeblich die großen Gedanken geboren werden, das Denken überhaupt. Nach dem Motto: Wenn wir den Schmerz eliminieren, dann verarmt die menschliche Erfahrung derart, dass wir am Ende zu anästhesierten, verflachten Kreaturen werden.

D: Klingt ganz vernünftig. 
CG: Für mich klingt beides vernünftig und gleichzeitig maßlos überzogen. Ich habe sowohl Schwierigkeiten mit dem Topos von Schmerz und Tiefe, als auch mit einer Medizin, die alles versucht, was machbar ist. Diese Verteufelung hat der niederländische Arzt und Philosoph F.J.J. Buytendijk „Algophobie“ genannt – eine krankhafte Abneigung gegen den Schmerz. Auf der anderen Seite steht die Glorifizierung des Schmerzes, und dann ist man schnell bei Ernst Jünger.

D: Das deutsche Volk als schmerzfreie Avantgarde, das sich in den Stahlgewittern der Kriege abgehärtet hat? 
CG: Genau. Und vielleicht ist die Abkehr vom Schmerz gerade hierzulande ganz folgerichtig, weil man gesehen hat, wohin die Glorifizierung führen kann. Die Zeiten, in denen man den Schmerz gesucht hat, waren nicht die glücklichsten in unserer Geschichte.

D: Heutzutage scheint beides zu koexistieren: Die Schmerzvermeidungsstrategien einer auf Wohlbefinden ausgerichteten Gesellschaft, in der auch notwendige schmerzhafte Erfahrungen nicht mehr möglich sind und gleichzeitig der Drang des Individuums, sich Leid zuzufügen. Anders kann man ja die Epidemie von Tattoos und Piercings kaum deuten. 
CG: Der Sexualforscher Volkmar Sigusch hat vor einiger Zeit gesagt, dass Sex ausgedient hat als entscheidende Quelle von Lebendigkeit und Geheimnis und von der Gewalt abgelöst wurde. Dahinter steckt die Idee , dass uns so etwas wie Wirklichkeit und Körperlichkeit verloren geht, und man auf Gewalt – auch gegen sich selbst – zurückgreift, um sich überhaupt noch zu spüren. Eben auch auf den Schmerz durch Verstümmelung. Piercing hat ja etwas davon. Gleichzeitig bin ich aber mit den kulturkritischen Pointen vorsichtig. Dass alle nur noch mit dem Finger an der Maustaste am Schreibtisch sitzen und sich deswegen in der Freizeit gegenseitig auf die Fresse hauen müssen – ist mir zu einfach.

D: Sie meinen, dass es zu banal ist, die Linderung von Schmerzen mit einer kulturindustriellen Sedierung zu verbinden, die den Menschen nach immer höheren Reizdosen rufen lässt, um aus seiner Betäubung zu finden? 
CG: Die Diskussion gilt es zu führen. Aber mich stört vor allem, wenn behauptet wird, dass wir es praktisch geschafft haben, den Schmerz zu besiegen. Von welchem Schmerz sprechen wir? Von den epidemischen Kopf- und Rückenschmerzen des Alltags, bei denen die meisten Menschen zur Selbstmedikation greifen? Von postoperativen Schmerzen? Oder von chronischen Schmerzen, bei denen überhaupt keine Rede davon sein kann, dass wir sie besiegt hätten? 

D: Kritisiert wird aber doch vor allem das Verschwinden wichtiger Erfahrungen – schon im Kindesalter. Auf gummierten Spielplätzen bewahren Eltern ihren Nachwuchs rund um die Uhr vor dem Schaden, durch den man klug wird. 
CG: Das ist schon richtig, aber auf der anderen Seite gibt es auch einen Fortschritt im Vergleich zur früheren Mentalität, die ja das Gegenteil zur Maxime machte. So gab es über viele Jahre in deutschen Krankenhäusern eine deutliche Unterversorgung mit Schmerzmitteln – vor allem für Kinder. Da spukten Vorstellungen herum, dass man Schmerz ertragen müsse und Kinder gar keine wirklichen Schmerzen haben. Grauenvoll. 

D: Gibt es nicht einen Mittelweg zwischen übertriebener Härte und zuviel Betäubung? 
CG: Es geht um eine Kultur, die anerkennt, dass Schmerzen nichts sind, was man aushalten oder erleiden muss. Ohne aber zu sagen, dass Schmerzen in jedem Fall abgeschafft werden.

D: Zumal die Politik den Schmerz und sein Schönreden als Strategie braucht. Das Pathos, das etwa im Märtyrertum steckt, macht doch die Art von Politik, die Schmerzen verursacht, überhaupt möglich. 
CG: Exakt. Man denke nur an die Märtyrer in den palästinensischen Gebieten. Wenn die Vertreter der Hamas die Eltern dazu beglückwünschen, dass sich ihr Sohn in die Luft gesprengt hat und von großer Ehre sprechen. Da muss man als Eltern schon einige Verschiebungen im eigenen Gefühlshaushalt leisten, um das so betrachten zu können.

D: Wird der Schmerz nicht erträglicher, wenn man ihm einen höheren Sinn zuordnet? 
CG: Das kann aber nicht von oben herab geschehen oder als politisches Programm. Der Schmerz ist ja immer der Schmerz von jemandem, und er bleibt auch der Schmerz von jemandem. Daher ist es schwierig, wenn man im Allgemeinen darüber spricht, dass der Schmerz einen Sinn hat. Dass der Einzelne auf eine ganz andere Antwort kommen mag, hat man nicht zu kritisieren.

D: Aber es tut nicht so weh, wenn ich etwas bekomme für den Schmerz. 
CG: Das ist wie mit dem Kind, das sich weh tut und erst einmal schaut, ob es einer bemerkt hat. Wenn da keiner ist, spielt es weiter. Wenn aber jemand guckt, schreit es. Weil es weiß, dass es eine Gratifikation erhält und getröstet wird.

D: Das macht den Scherz erträglich. 
CG: Man könnte ihn aber auch ignorieren. Schmerzausdruck hat ja eine Geschichte und findet in Situationen statt. Wenn Sie auf eine Station mit chronisch Schmerzkranken gehen, erwarten sie eine Ansammlung schmerzverzerrter Gesichter und lautes Stöhnen. Beides finden sie nicht, weil es nämlich nichts bringt. Weil es keinerlei Erleichterung verschafft und keine Folgen hat. Daher wird der Ausdruck auf Null geschaltet, ohne dass der Schmerz verschwände. 

D: Kann man sagen, dass beim Schmerz die Bilanz stimmen muss? Wenn ich beschnitten werde, tut das weh, aber danach bin ich ein Mann. Wenn ich mich beim Sport verausgabe, kommen nach der Qual die Glückshormone. 
CG: Oder am Ende ist ein Kind da. 

D: No pain, no gain. 
CG: Auch wieder so eine rhetorische Glorifizierung. Wie das Gerede, dass der Geburtsschmerz ein positiver Schmerz sei. Das erzeugt doch bei Frauen, die Kinder bekommen haben, nur Hohn. Es gibt keinen positiven Schmerz. Man kann ihn aber besser ertragen, wenn man weiß, was es ist und wofür es ist.

D: Wenn man die Ursache kennt. 
CG: Das ist die entscheidende Frage. Für Menschen mit chronischen Schmerzen ist es das Schlimmste, die Ursache nicht zu kennen. Es reicht schon, wenn man den Schmerz benennen kann, ihm einen Namen gibt. Denn dann existiert er auch für die anderen, es gibt eine intersubjektive Anerkennung. Benennen heißt ja auch Bannen.

D: Aber einen Sinn hat der Schmerz dann noch lange nicht. 
CG: Die allgemeine Frage nach dem Sinn des Schmerzes ist Unsinn. Das ist etwas, das dem Schmerzhabenden allzu oft von außen oktroyiert wird. So in der Art: Jetzt sieh dein Leid auch mal als Chance und werde gläubig, demütig und weise. Das ist übel. Und wenn jemand sein Schicksal nicht als Chance erfährt, sondern als sinnlosen, zerstörerischen Einbruch von außen, aus dem man keinerlei positive Konsequenzen ableiten kann? Dann ist er selbst schuld.

D: Dann kommt durch das peinliche und peinigende Gerede zum physischen Schmerz noch ein weiterer hinzu. 
CG: Verletzende oder beleidigende Dinge, die einem gesagt werden, tun manchmal nicht weniger weh als körperliche Gewalt.

D: Es gibt ja auch das sogenannte Broken-Heart-Syndrom, mit dem medizinisch nachgewiesen ist, dass aus seelischem Schmerz physisches Leiden wird. 
CG: Dass ein Mensch an gebrochenem Herzen stirbt, klang in unserer Zeit wie eine romantisierende Volksweisheit. Jetzt hat die Medizin festgestellt, dass es wirklich vorkommt. Und weil man es plötzlich benennt, gibt es das plötzlich. Obwohl es natürlich vorher die ganze Zeit da war.

D: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Absenz von Schmerz und dem Empathievermögen? 
CG: Es gibt ja einerseits die Unfähigkeit mitzuleiden, die eine schreckliche Angelegenheit ist. Andererseits gibt es auch eine Art Überempfindlichkeit, die ganz unproduktiv ist. Da muss ich an Tolstois Anna Karenina denken. Als Lewins Bruder im Sterben liegt, ist er davon total eingenommen und vollständig gelähmt. Seine Frau aber, die nicht weniger mitleidensfähig ist, organisiert alles und schafft ein Umfeld, das dem Bruder sein Sterben erleichtert. Lewin steht für die Menschen, die durch ihr eigenes Mitleiden stumm und starr werden. 

D: Können Frauen besser Schmerz ertragen, weil sie in ihrem Leben mehr Erfahrungen damit machen – etwa beim Gebären? Die Männer holen sich diese Erfahrung ja höchstens mal bei einem Kreuzbandriss beim Fußballspielen. Nicht ein wenig klischiert? 
CG: Da wird schon etwas dran sein. Zumal der Kreuzbandriss ja läppisch ist dagegen. Zudem ist der Schmerz hier auch vollkommen sinnfrei, und für nichts gut.

D: Naja, Sportler würden sagen, dass sie eine Menge Spaß haben und für die Qualen mit Endorphinen belohnt werden. 
CG: Nicht umsonst gibt es ja immer mehr Menschen, die sich durch einen Marathon quälen. 
Da sind wir wieder bei der Suche nach Wirklichkeit, die ja in letzter Instanz immer körperliche Wirklichkeit ist. Sportkann auch zu einer Art Gewalt werden, die man sich selbst antut. Dass sich Menschen, die gar nicht besonders sportlich sind, plötzlich in den Kopf setzen, einen Marathon zu laufen – das kann schon von einem gewaltsamen Verhältnis zu sich selbst zeugen.

D: Reden wir mal vom seelischen Schmerz, der einem auch genommen wird, wenn etwa wichtige Erfahrungen wie der Tod eines Angehörigen aus dem Leben verschwinden, weil die Großeltern in einem Hospiz sterben. Kommt den Menschen da mit der Möglichkeit, an Stärke zu gewinnen, eine Art emotionaler Komplettheit abhanden? 
CG: Das sind Klischees, die eine wahre Seite haben und in dem Moment falsch werden, in dem man zu stark verallgemeinert. Es ist nun mal so, dass Angehörige sterben, und man selbst tut es auch. Daran wird sich auch nichts ändern. Daran leidet man. Es ist aber produktiver, wenn man den Schmerz zulässt und damit umgeht. Das heißt aber nicht, dass eine volle Persönlichkeit ausmacht, dass sie gelitten hat, und man das seelische Leid suchen muss. Der Punkt ist, dass dieses Leiden unvermeidlich ist und man einen Umgang damit finden muss, der einen möglichst gut weiter leben lässt. Trauerformen, die nicht darin bestehen können, das Leiden zu verdrängen – sonst geht man daran kaputt. Auch wenn man es gar nicht merkt. 

D: Gibt es Menschen oder sogar Kulturen, die schmerzfreier sind? 
CG: Klinisch gesehen ist Fakt, dass die Schmerzempfindlichkeit nicht verändert werden kann – nur die Art und Weise, damit umzugehen. Die Schmerztoleranz.

D: Wobei Schmerztoleranz gern mit dem Grad der Kultiviertheit verbunden wird. Je schmerzfreier, desto wilder… 
CG: Ja, die Tiere haben weniger Schmerz und im Zweifel die Afrikaner auch, weil die ja eh irgendwo da in der Nähe angesiedelt sind. Wenn sie Nietzsche lesen, finden sie diese Haltung noch. 

D: Auch heute scheint unser Blick auf den Schmerz in der Welt von rassistischen Vorurteilen geprägt. Vielleicht lässt der Schmerz in Afrika so viele Menschen kalt, weil man denkt, dass sich viele Afrikaner in ihrer Freizeit ja eh gern Pfeile durch den Kopf bohren und ihre Frauen beschneiden. 
CG: Die Afrikaner sind die Bewohner des dunklen Kontinents, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Joseph Konrads Buch „Herz der Finsternis“ bringt das bis heute gut auf den Punkt: Wenn man nach Afrika fährt, wird es dunkel und düster. Man versteht das Leiden nicht, nur soviel, dass es ganz anders als unseres ist.

D: Dabei haben ja gerade die Kolonialmächte die großen Schmerzerfahrungen über diesen Kontinent gebracht. Die Deutschen ließen die Namibier verhungern, die Belgier hackten den Kongolesen die Hände ab, wenn sie nicht genügend Kautschuk aus dem Wald mitbrachten. 
CG: In der Tat ist ein guter Teil dieses Schmerzes kolonial, also von uns zugefügt.

D: Ist es nicht bis heute so, dass unser Wohlergehen mit Schmerzerfahrungen in der Dritten Welt erkauft ist? 
CG: Das ist so. Man ist fast versucht, an so etwas wie eine Schmerzgesamtbilanz zu denken, die sich nicht verändert. Wenn es hier aufhört wehzutun, fängt es woanders an. Die Diskussion darüber, ob wir das Leiden ganz abschaffen dürfen, ist mit Blick auf die Welt nicht nur ein ungeheurer Luxus, sondern geradezu zynisch. Wir haben weniger Schmerz, weil wir ihn zum Teil auch exportieren. Weltweit kann man von einer Abschaffung des Leidens weiß Gott nicht sprechen. 

* Es war gar nicht so einfach, den richtigen Gesprächspartner zum Thema zu finden. Es gibt natürlich viele Mediziner, die einem erklären, was Nerven und Synapsen so im Körper anstellen, wenn es weh tut. Aber das war uns zu biologisch. Ein Ritualforscher wäre für ein Gesellschaftsmagazin natürlich auch in Frage gekommen, aber schließlich stießen wir in der von uns geschätzten „Zeitschrift für Psychologie und Gesellschaftskritik“ auf einen Aufsatz mit dem wunderbaren Titel „Vom Nutzen und Nachteil des Schmerzes für das Leben“, geschrieben von eben diesem Christian Grüny, der an der Universität Witten/Herdecke Juniorprofessor an der Fakultät für Kulturreflexionen ist.

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