Eine gute Erfahrung

Mit dem Rollstuhl durch Münster, Teil 1

Von Andy Strauß

Ich wache auf, kurzes Frühstück, dann reinige ich die Sitzfläche des vom Altersheim gegenüber geliehenen Rollstuhles mit Badreiniger. Kurz trockengerieben, dann Platz genommen. Ab jetzt bin ich Rollstuhlfahrer. Noch eine warme Decke über die Beine gelegt, und es kann losgehen. Da heute Wochenmarkt ist, plane ich dort auf einen Backfisch vorbeizufahren und danach in der Drogerie ein neue Deo zu kaufen – so als Einstieg. 

Glücklicherweise liegt meine Wohnung im Erdgeschoss. Doch als ich meine Wohnungstür öffne, versperrt mir ein im Treppenhaus geparkter Kinderwagen den Weg. Immer auf die Gefahr hin, die rechts gelegene Kellertreppe hinunterzustürzen, geht es für den Kinderwagen ein Stück zurück und für mich ein Stück voran. Nach guten zwei Minuten ist das Hindernis passiert, und ich stehe an der frischen westfälischen Luft. Die Konzentration der Sonnenstrahlen lässt auf einen schönen Frühlingstag hoffen. 

Mein erstes Ziel, der Wochenmarkt auf dem Münsteraner Domplatz, ist zu Fuß gerade mal vierhundert Meter, also knappe fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. Ich bin optimistisch. Nach nicht einmal 20 Metern allerdings wird mir der Wahnsinn meines Unterfangens zum ersten Mal bewusst: Erstens ist der Durchschnittsbürgersteig nicht für die Fahrt mit einem Rollstuhl geeignet. Zweitens scheint der Rollstuhl, den ich ergattern konnte, vornehmlich dazu bestimmt, von einer zweiten Person geschoben zu werden. Drittens, und das finde ich besonders demoralisierend: Ich befinde mich ständig auf Augenhöhe mit den Mülltonnendeckeln am Straßenrand. 

Zudem gerate ich ständig auf die schiefe Bahn – denn obwohl ich denke, meine Kraft immer gleichmäßig auf beide Reifen zu verteilen, schlenkere ich ständig nach rechts oder links. Wenn ich ein Polizist wäre, würde ich schon jetzt meine Fahrtüchtigkeit überprüfen. Zudem macht sich ein leichtes Brennen in meinen Armen bemerkbar, was ich zu ignorieren versuche. Als das grüne Licht an der Ampel den Weg frei gibt, nehme ich entschlossen Fahrt auf – doch ich schaffe es nicht den Bordstein hinunter. Da die Grünphase schon wieder vorbei ist, bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. Ich fahre also ein paar Zentimeter zurück und versuche es mit Anlauf erneut, wieder ohne Erfolg. Schnell lasse ich meinen Blick den Boden entlangschweifen und entdecke eine noch flachere Stelle, die ich dann tatsächlich bewältigen kann. Die Autofahrer nehmen mein umständliches Rangieren geduldig und ohne Hupen hin, und ich werfe dem Wagen an der Spitze eine entschuldigende Geste zu, bevor ich in die Fußgängerzone einfahre. Hier bin ich zum ersten Mal wirklich unter Menschen. 
Das Pflaster der Straße hier ist noch schwerer zu bewältigen als der vorherige Bürgersteig, aber ich beiße mich tapfer bis zum Spiekerhof durch, Münsters sogenannte gute Stube. Dort angekommen, bin ich bereits ziemlich außer Atem und meine Stirn schweißnass. Mein direkter Weg wäre nun über das Kopfsteinpflaster auf die andere Straßenseite und dann eine schmale Gasse hinan. Das Problem: Dort befindet sich eine Treppe, die ich definitiv nicht bewältigen kann. Da ich noch nicht bereit bin, um Hilfe zu bitten, nehme einen Umweg von 300 Metern in Kauf. Die vier Höhenmeter, die ich sonst in einem Rutsch an der Treppe überwunden hätte, sind jetzt auf dieser Strecke verteilt. Was sich nach einer Kleinigkeit anhört, ist in Wirklichkeit eine Herausforderung ersten Grades für meinen Bizeps. Nur wer einmal versucht hat, einen Lkw zu ziehen, weiß, was ich in diesem Moment empfinde. 

Gerade als ich unter höchster Anstrengung zwei Meter geschafft habe, höre ich schnelle Schritte auf mich zueilen. Ein junges Pärchen Anfang zwanzig tritt an mich heran und fragt, ob es mir helfen könne. „Voll gerne“, sage ich und habe diese Formulierung selten so ernst gemeint. Ohne großes Geplänkel werde ich jetzt vom Mann geschoben und von seiner wunderschönen Begleitung beiläufig gefragt, wo ich denn hinmüsse. Ich behaupte, dass ich lediglich zum 80 Meter entfernten Eiscafé Firenze wolle. Dort wird mir von den beiden noch die Tür aufgehalten, woraufhin wir uns freundlich voneinander verabschieden. Da ich nun im Eiscafé bin und das Wetter mitspielt, entscheide ich mich für ein, zwei Kugeln Zitrone. Der Italiener hinter der Theke schaut mich kurz zweifelnd an, als ich auf die Frage, ob die Kugeln im Becher oder in der Waffel will, mit Waffel antworte. Zunächst weiß ich den Blick nicht zu deuten, aber anscheinend hat der Mann schon mehr Erfahrungen mit Rollstuhlfahrern, denn als er um die Theke herumläuft und mir die Waffel in die Hand drückt, merke ich: mit einer Hand ist es unmöglich, sich fortzubewegen. Einen Becher hätte ich mir auf den Schoss stellen können, aber ein Eis in einer Waffel legt man nicht einfach mal kurz weg. Der freundliche Italiener fragt mich, wo ich sitzen möchte, und ich lasse mich von ihm auf die Terrasse des Eiscafés schieben. Während ich am Eis lecke, überlege ich, ob mir der junge Mann von vorhin geholfen hat, weil er mir helfen wollte oder um bei dem Mädchen zu landen. 

Da ich einen Schlecker an der Kanalstraße kenne, beschließe ich, stadtauswärts weiterzufahren. Ich rolle die Neubrückenstraße entlang, auf deren Mitte sich der Kiosk befindet, an dem ich mich für gewöhnlich mit Tabakprodukten eindecke. Problematisch ist, dass das Büdchen nur über zwei Treppenstufen zu betreten ist. Da ich aber auf meine Kippen nicht verzichten möchte, klopfe ich gegen die Schaufensterscheibe, bis der Besitzer zur Tür gelaufen kommt. Obwohl ich Stammkunde bin, scheint Aziz mich nicht zu erkennen, was eventuell an der blauen Strickmütze liegt, vermutlich aber eher an meinem ungewohnten Vehikel. Statt mit „Hallo, mein Freund“ werde ich mit einem ebenso gut gelaunten „Wie kann ich helfen?“ begrüßt. Ich sage ihm meine Marke, und vor der Tür wechseln Geld und Produkt ihren Besitzer. Da für das bisschen Strecke bereits wieder eine Viertelstunde draufgegangen ist, entschließe ich mich, eine Zigarette zu rauchen, und rolle dafür in eine Häusereinfahrt, um nicht den Bürgersteig zu blockieren. Es nervt mich mittlerweile tierisch, dass Rauchen und Fortbewegung nicht gleichzeitig vonstattengehen können. 

Relativ entspannt geht es weiter. An einer weniger befahrenen Straße, die ich überqueren muss, übe ich ein bisschen, auch höhere Bordsteinkanten zu meistern. Angespornt davon, etwas Neues gelernt zu haben, geht es weiter. Schlecht abgestellte Fahrräder machen den Bürgersteig zu einem Hindernisparcours, teilweise ist es so eng, dass es gar nicht möglich ist, an ihnen vorbeizufahren, ohne sie dabei umzuwerfen. Als ich den Schlecker erreiche, fühlen sich meine Arme bereits so an, als hätte jemand das Blut durch siedendes Frittierfett ausgetauscht. Etwas umständlich öffne ich die Ladentür und freue mich, dass es hier wenigstens keine Treppen gibt. Problematisch hingegen: Die Gänge des Ladens sind wüst mit Kartons vollgestellt und an sich schon wahnsinnig eng. Bevor ich mich aber darüber ärgern kann, stürmt eine robuste Mitvierzigerin auf mich zu. „Tut mir leid, hier kommense wohl nicht durch.“ Pragmatisch werde ich gefragt, was ich denn brauche. „Deo“, sage ich kurz und stelle fest, dass ich nicht nur allgemein, sondern gerade ganz dringend eine Deodorierung nötig habe, mein T-Shirt ist unter der Jacke klatschnass. Die Verkäuferin nickt und verschwindet irgendwo im Dickicht der Regallandschaft. „Da nehmense am besten das Alaska von Axe, das wird am meisten gekauft“, ruft sie zu mir rüber. Ich willige ein, ärgere mich aber, dass mir die Entscheidung abgenommen wurde. Ich bezahle, lege das Deo unter meine Decke, und mir wird erneut eine Tür aufgehalten. 

Da ich nun endlich wieder gut rieche und mir das nicht durch hartes Rollen wieder verderben will, beschließe ich, jetzt den Bus zu nehmen. Gut, dass die Haltestelle bereits in Sichtweite ist. Während ich warte, habe ich ein mulmiges Gefühl, denn ich weiß nicht, wie ich gleich in den Bus hereinkommen soll, und habe immer noch Skrupel, einfach jemanden zu fragen. Als der Bus in Sichtweite kommt, gesellt sich ein Mann in roter Outdoor-Jacke und Rucksack zu mir. „Rückwärts oder vorwärts?“, fragt er. „Ich weiß es nicht, es ist mein erstes Mal“, antworte ich, weil es stimmt. „Dann besser rückwärts“, sagt er. Als der Bus hält, geht alles ganz schnell: Der Fremde fragt den Fahrer, wo die Rampe ist und wenige Sekunden später steht mein Rollstuhl im Bus. „Wo steigen Sie aus?“, fragt mein Helfer, und ich antworte, dass ich nur bis zum Bült müsse. Da es sich um eine Strecke von gerade mal fünf Minuten handelt, füge ich hinzu, dass das mit dem Rolli irgendwie anstrengender sei, als ich dachte. Warum ich das Gefühlt habe, mich rechtfertigen zu müssen, verstehe ich selbst nicht so genau. „Passt, da bin ich auch noch hier und helfe Ihnen raus.“ Unkompliziert klappt er am Bült die Rampe runter und schiebt mich auf die Straße. 

Durch die Einkaufsmeile fährt es sich ganz gut, es bleibt zwar anstrengend, aber es gibt keine besonderen Hindernisse, und negative Kommentare, weil ich im Rollstuhl sitze, höre ich auch keinen einzigen. Während ich kurz pausiere, läuft plötzlich eine ältere Frau mit einem Pudel an mir vorbei, schaut mich mitleidig an und wirft mir fünfzig Cent auf meine Decke. Ungefähr in der Mitte des Platzes sehe ich einen alten Bekannten, der für gewöhnlich die Eigenschaft hat, andere Bekannte aus der dichtesten Menschenmenge heraus zu erspähen und sie unaufgefordert über die neusten Szene-News zu unterrichten. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass er mich nicht erkennt, wahrscheinlich unterrolle ich das Spionagefeld seines Hipster-Radars, wofür ich ehrlich gesagt ziemlich dankbar bin. 

Um doch noch in den Genuss einer ungestörten Zigarette zu kommen, fahre ich in Richtung eines Cafés mit abgetrenntem Raucherbereich. Passanten öffnen mir ungefragt die Tür, und im Café werde ich behandelt wie sonst auch. Irgendwann, ich habe meinen Kaffee gerade halb ausgetrunken, spricht mich ein Mann vom Nebentisch an. Er ist, wie er mir gleich verraten wird, dreiundvierzig, arbeitsunfähig, ehemaliger Oberfeldwebel und hat eine Verwalterin für sein Geld, da ihm der Umgang damit Probleme bereitet. Sein größtes Problem allerdings seien zwei Moslems, die in seinem Haus wohnen, und es könne ja nicht sein, dass man die Taliban jetzt schon direkt vor der Haustür habe. Ich würde mich gerne etwas weiter von ihm weg setzen, wüsste aber nicht, wie ich meine Tasse vernünftig transportieren sollte. Als er erzählt, dass er wegen Hirnblutungen auch eine ganze Weile im Rollstuhl gesessen habe, und sich beschwert, wie wenig hilfsbereit die Menschen doch seien, antworte ich, dass mir bisher alle geholfen haben – woraufhin sich ein weiterer Mann einmischt, der bis dahin ruhig in einer Ecke die „FAZ“ studiert hatte. „Wie ist das eigentlich für Sie? Ich weiß immer nicht, ob man helfen soll oder nicht, man will ja auch nicht aufdringlich sein. Die Menschen wollen ja auch selbstbestimmt sein.“ Eine Frage, die ich mir selbst auch schon gestellt habe und die ich mir heute relativ gut beantwortet habe. Ein bisschen Empathie hilft, denn mir wurde bisher nur dann Hilfe angeboten, wenn ich sie tatsächlich brauchte. 

Vom Café aus fahre ich zum Bahnhof, freue mich über den Behinderteneingang, den mir ein sympathischer Bahnangestellter öffnet, dann bin ich mit meiner Kraft ziemlich am Ende und sehne mich nach meinem Bett. In meinen Bus Richtung Wohnung werde ich von zwei Heranwachsenden getragen, die optisch in eine Talkshow zum Thema „Ballonseide und Baggy-Hosen“ gepasst hätten, auch sie haben mich gefragt, ob sie mir helfen könnten. Nach viereinhalb Stunden höre ich im Bus endlich die erste Beleidigung: „Du Spasti!“ Fast bin ich erleichtert. Doch dann merke ich, dass die Beschimpfung gar nicht mir galt.

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